Название: Die Wurzeln des guten Geschmacks
Автор: Stefano Mancuso
Издательство: Bookwire
Жанр: Математика
isbn: 9783956141133
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Weil wir nämlich nicht wirklich begreifen, welche Rolle wir im Ökosystem spielen, erkennen wir nicht einmal, welche Schäden unsere Art anrichtet. Dabei hat sich unsere Fähigkeit, Schäden zu verursachen, im Lauf der Zeit noch erheblich gesteigert. Allerdings will ich damit nicht sagen, dass unsere Art auch nur im Entferntesten in der Lage wäre, das Leben auf der Erde auszulöschen. Davon kann gar keine Rede sein: Wir übertreiben wieder einmal, selbst in unseren Katastrophenszenarien. Wir sind wohl unverbesserliche Großmäuler … sympathische Don Quichottes. Das Leben auslöschen! Was wir uns da bloß einbilden! Wir können höchstens uns selber auslöschen. Das wäre nicht schön, aber objektiv gesehen und in Anbetracht der Fülle des Lebens vollkommen nebensächlich.
Offenbar haben wir nur eine sehr ungenaue Vorstellung von der Bedeutsamkeit unserer Art. Wir halten uns für die erfolgreichsten Lebewesen auf der Erde. Aber sind wir das wirklich? Worauf stützt sich unsere Gewissheit überhaupt? Versuchen wir doch einmal, diesen Erfolg zu konkretisieren, in konkrete Zahlen zu fassen, wie in der Wissenschaft üblich. Dann sehen wir nämlich, dass unsere Überheblichkeit jeder Grundlage entbehrt. In der klassischen Evolutionstheorie bemisst sich der Erfolg eines Organismus nämlich danach, wie stark er sich vermehren kann. Erfolgreiche Organismen vermehren sich stärker als andere, ihre Populationen sind größer und ihre Gene weiter verbreitet.
Okay? Nach dieser Definition sind die Tiere auf der Erde eine zu vernachlässigende Größe. Die Biomasse der Erde besteht fast vollständig aus Pflanzen. Wirklich fast vollständig. Die Pflanzen sind für sage und schreibe 99,7 Prozent des Gewichts all dessen verantwortlich, was auf der Erde lebt. Unfassbar! Wenn alle Pflanzen verschwinden würden, wäre das das Ende jeglichen Lebens auf der Erde. Aber wenn der Mensch verschwände, wäre das nur eine Fußnote in der Geschichte unseres Planeten.
Eine Ethik der Natur: Wenn unser Verhältnis zur Natur, zur Schöpfung, nicht länger auf Ausbeutung, sondern auf Wohlwollen beruhen würde, dann würden alle davon profitieren.
Aber um auf die Frage der Überproduktion zurückzukommen, die du eben angesprochen hast: Da bin ich ganz deiner Meinung. Es geht nicht darum, dass wir mehr, sondern dass wir vor allem besser produzieren. Die heutige Agrar- und Nahrungsmittelindustrie ist das Ergebnis der Wachstumsmodelle, die wir eben angesprochen haben. Nach diesen Modellen muss die Wirtschaft ständig wachsen und der Konsum endlos zunehmen. Das sind alles Aspekte desselben Problems: Wir müssen wieder ein Gleichgewicht zwischen uns und der Natur herstellen.
PETRINI: Weißt du, was mir an deinem Buch Die Intelligenz der Pflanzen so gut gefällt? Dass es uns die Augen für eine Sichtweise öffnet, die den Menschen nicht in den Mittelpunkt stellt, sondern zu anderen Lebewesen in Beziehung setzt. Ich sage das auch angesichts der neuen Enzyklika, die Papst Franziskus gerade verkündet hat. Du hast sie eben angesprochen, und ich finde, sie hält in dieser Hinsicht manches Interessante bereit – das eigentlich schon sehr alt ist. Denn schon der größte Italiener überhaupt, der heilige Franz von Assisi, hat dieses Verhältnis von Mensch und Natur sehr poetisch und einfach großartig beschrieben. Inzwischen sind wir von dem Kurs eines ethischen Verhaltens gegenüber der Natur allerdings ziemlich abgekommen. Wir leben heute in einer Welt, in der Ökonomie und Wissenschaft den Ton angeben und alle ganzheitlichen Sichtweisen, die auch Ethik oder Spiritualität umfassen, an den Rand drängen. Ich sage das als Atheist, ich bin nicht gläubig, aber ich sehe hier im aktuellen historischen Moment dennoch eine große Leerstelle.
Und um den Gedanken zu Ende zu führen: Als Gastronom kann ich unsere tägliche Nahrung in ihrer zentralen Bedeutung nicht von dieser Ethik ausnehmen. Die Achtung gegenüber anderen Lebewesen, gegenüber den Pflanzen gebietet auch, uns in unserer wechselseitigen Beziehung zu den Nahrungsmitteln – die wir zu uns nehmen und dank derer wir ja überhaupt leben – verantwortungsbewusster und weniger ausbeuterisch zu verhalten. Der Mensch ist vom Jäger zum Bauern geworden, und ich wünschte mir, wir würden uns davon lösen, immer nur unsere eigenen Ernährungsbedürfnisse im Blick zu haben. Damit verkennen wir nämlich, dass der Mensch im großen Ökosystem Erde zu allen Lebewesen in Beziehung steht, ja, auf sie angewiesen ist.
MANCUSO: Dass wir heute eine systemische Sichtweise, wie du sie angesprochen hast, brauchen, ist ein ganz wichtiges Thema und, so meine ich, ebenfalls eine Folge der Moderne. Aber wenn die Werte der Moderne falsch sind, dann muss man sie eben korrigieren.
So hat die extreme Spezialisierung unseres Wissens, um nur einen Faktor zu nennen, dazu geführt, dass wir die Verbundenheit aller Lebewesen und ihre Abhängigkeit untereinander nicht mehr wahrnehmen. Ein Beispiel: Wenn ich dir heute jemanden nennen sollte, der sich mit Pflanzen auskennt, dann würde ich dir vermutlich kaum einen Pflanzenforscher, kurzum einen Wissenschaftskollegen von mir, empfehlen. Das scheint seltsam. Aber nicht, wenn man weiß, dass Pflanzenforscher heutzutage nichts mehr mit den etwas langweiligen Damen und Herren gemein haben, die ständig mit der Botanisiertrommel in der Natur unterwegs sind. Die sind nämlich vom Aussterben bedroht. Ihre Art müsste eigentlich gesetzlich geschützt werden! Die meisten Wissenschaftler, die sich heute mit der Pflanzenwelt beschäftigen, sind Molekularbiologen. Und sie erforschen Pflanzen nicht als Ganzes, als klug gebaute, komplexe Lebewesen, sondern widmen sich den einzelnen Aspekten genetischer Beziehungen und molekularer Wechselwirkungen, die sie dann an Hefen, am Menschen oder eben an Pflanzen untersuchen. Sie betreiben damit wichtige Grundlagenforschung, können uns aber nur wenig über pflanzliche Organismen und ihre Rolle in der Welt sagen, geschweige denn, sie in einem neuen Licht erscheinen lassen.
Wer heute begreifen möchte, was eine Pflanze macht, was sie braucht, wie sie sich zu anderen Pflanzen oder zu Tieren verhält, wendet sich am besten an jemanden, der Pflanzen züchtet, der sie hegt und pflegt, mit ihnen lebt, und nicht an einen Molekularbiologen, der, und das liegt in der Natur der Sache, nicht den Organismus als Ganzes oder in seinem natürlichen Umfeld erforscht.
Die extreme Spezialisierung ist eine direkte Folge des Fächerkanons, den die Moderne eingeführt hat. Ihm verdanken wir einerseits ungeheuer weitreichende wissenschaftliche Erkenntnisse und eine bis dahin undenkbare Wissensvermehrung; aber wir haben uns dadurch auch unendlich weit von einer ganzheitlichen Erforschung des Lebens entfernt. Und sind darum, so paradox das klingt, heute nicht mehr so gute Theoretiker wie früher einmal – weil wir dazu einen breiteren Horizont bräuchten. Die riesige Menge an Einzelinformationen, mit denen uns die Wissenschaft heute versorgt, bleibt oft ungenutzt, weil sie sich nicht mehr in ein Gesamtbild einfügen. Lebewesen sind nämlich – eigentlich überflüssig, zu sagen – mehr als die Summe ihrer einzelnen Reaktionen: Sie sind etwas viel Komplexeres.
Wenn wir diese Überlegungen nun vom einzelnen Pflanzenexemplar auf das gesamte Ökosystem übertragen, dann wird deutlich, dass wir dringend eine stärker systemische Methode brauchen, um das, was wir erforschen, wirklich zu verstehen.
PETRINI: Und was sich bei unserem kleinen Exkurs vor allem zeigt: Wer, wie du oder ich, einen alternativen Ansatz vertritt, gilt sofort als seltsamer Zeitgenosse. Aber in einer Welt, in der die Wirtschaft absoluten Vorrang hat, muss man eine ganzheitliche Sicht fördern. Und wo die Wissenschaft beinah zwangsläufig spezialisiert ist, ist sie das doch nur nach ihrem heutigen Selbstverständnis …
MANCUSO: Genau. Sie ist erst so geworden.
PETRINI: … Und darum betrachtet man beispielsweise die Konzepte, die Netzwerke wie Terra Madre oder Slow Food zu Nahrungsmitteln, zu einer Gastronomie der Befreiung oder zur notwendigen Versöhnung der Lebewesen mit der Erde entwickeln, als persönliche Meinungen, ja tut sie als esoterisch ab, als wären unsere Ansätze nicht wissenschaftlich fundiert oder würden die ökonomischen Aspekte des Problems nicht berücksichtigen.
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