Название: AktenEinsicht
Автор: Christina Clemm
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783956143755
isbn:
Ohne jeden Zweifel hatten alle Zeug*innen Claudia S. wiedererkannt.
Die Anwältin versucht daraufhin zunächst vor der Verhandlung, bei Staatsanwaltschaft und Richterin, hervorzuheben, dass die Aussagen der Zeug*innen im Hinblick auf die Wiedererkennung ihrer Mandantin wertlos sind. Die Wiedererkennung durch diese Zeug*innen aufgrund der Lichtbildvorlage war der einzige Beweis der angeblichen Täterinnenschaft von Claudia S. Die Anwältin trägt Staatsanwaltschaft und Richterin schriftlich vor, dass diese Lichtbildvorlage den Verwaltungsvorschriften für Richter*innen und Staatsanwält*innen (RistBV) widerspricht und damit für das Verfahren keinerlei Beweiswert haben kann. Denn die Zeug*innen haben nicht etwa aus mehreren sich ähnlich sehenden Personen eine mögliche Täterin herausgesucht, sondern es kamen überhaupt nur zwei abgebildete Personen in Betracht, und davon war eine so abgebildet, dass bereits das Foto suggerierte, dass es sich um eine Straftäterin handeln musste. Außerdem sei nicht sicher, ob sich die Zeug*innen nicht absprechen konnten. Darüber hinaus schrieb sie, dass die Lichtbildvorlage nicht nur keinen Wert habe, sondern im Gegenteil auch eine spätere Identifizierung durch die Zeug*innen nunmehr insgesamt nicht mehr möglich sei, da sie das Bild von Claudia S. eingehend studiert hatten, diese auch zu einem späteren Zeitpunkt immer wieder identifizieren würden.
Die Staatsanwaltschaft ging auf das Vorbringen der Anwältin nicht ein, und auch das Gericht ließ die Anklage unverändert zu und eröffnete das Hauptverfahren.
Aber immerhin hatte die Anwältin einen kleinen Stachel gesetzt, der die Richterin, die das Verfahren führen würde, auf die Wiedererkennung sensibilisierte und die sich deshalb auf eine ungewöhnliche Vorgehensweise, die die Anwältin anregte, einließ.
Die Strafprozessordnung sieht vor, dass ein Verfahren in den meisten Fällen nur gegen eine anwesende Person durchgeführt werden darf. In der Regel sitzen die Angeklagten neben oder vor ihren Verteidiger*innen, zwingend ist dies aber nicht. Denn die Strafprozessordnung schweigt über die Sitzordnung. Unbestritten ist, dass der Sitzplatz eine große Suggestionswirkung hat. Die meisten Menschen verwerfen mögliche Unsicherheiten des Wiedererkennens, wenn sie eine Person identifizieren sollen, die augenscheinlich die Angeklagte* ist, denn sie gehen davon aus, dass schon die richtige Person auf der Anklagebank sitzt. Wenn eine Person auf der Anklagebank sitzt, die vorher in einer Lichtbildvorlage vorkam, verstärkt sich die Suggestion.
Am Verhandlungstag ist vor dem Gerichtssaal im dritten Stock ein kleiner Tumult.
Vor dem Saal stehen fünfzehn Frauen, davon sind acht blond und zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt und zwischen 1,70 und 1,80 Meter groß. Sie sind schlank, und man könnte sie als sportlich beschreiben.
Es stehen dort auch zehn Herren und Damen, die offensichtlich der Gruppe der selbsternannten Lebensschützer angehören und zum Teil später als Zeug*innen aussagen. Dazwischen stehen Wachtmeister, die eingegriffen hatten, als ein älterer Herr eine blonde Frau angegangen war und sie beschimpfte.
Die Anwältin zieht vor dem Gerichtssaal ihre Robe an und ist so für alle als Rechtsanwältin zu erkennen. Sie geht sofort zielstrebig auf eine der blonden Frauen zu, begrüßt sie und bittet sie noch kurz und für die Umstehenden verständlich darum, mit ihr um die Ecke zu gehen, um letzte Details ihrer Aussage zu besprechen.
Es ist Bettina K., eine Frau, die am Tattag nachweislich in London weilte. Dann betritt die Anwältin den Gerichtssaal, während sich Bettina K. wieder zu den vor dem Saal Stehenden begibt. In dieser Gruppe befindet sich auch Claudia S.
Bei Aufruf der Sache geht Bettina K. in den vorderen Teil des Saals und setzt sich neben die Anwältin, während die anderen, auch Claudia S., die Plätze im Publikum einnehmen. Die Richterin ruft die Zeugen und Zeuginnen herein, um diese zu belehren und daraufhin wieder bis zu ihrer Vernehmung aus dem Saal hinauszuschicken.
Dann ruft die Richterin einen Zeugen nach dem anderen herein und bittet sie, bevor sie inhaltlich zu den Geschehnissen Stellung nehmen sollen, vorab schon einmal mitzuteilen, ob sie in dem Gerichtssaal die Person, die sie als Rädelsführerin bezeichnet hatten, wiedererkennen würden.
Sie bittet sie, sich genau umzusehen, sich Zeit zu lassen, alle Frauen im Gerichtssaal anzusehen und in Ruhe nachzudenken, bevor sie sich festlegten.
Fünf Zeug*innen betreten nacheinander den Gerichtssaal. Alle erkennen die Frau auf der Anklagebank als Rädelsführerin mit Sicherheit wieder und verlassen erneut den Gerichtssaal. Dass dort nicht die Angeklagte sitzt, sondern Bettina K., und dass Claudia S. stattdessen im Publikum Platz genommen hat, erkennt niemand.
Danach geht es schnell. Die Richterin bittet alle außer den Staatsanwalt und die Anwältin, den Gerichtssaal zu verlassen, und kaum ist die Tür geschlossen, richtet sie ihr Wort an den Staatsanwalt: »Na, dann werden wir wohl freisprechen müssen.« Der Staatsanwalt ist sichtlich genervt, redet von der Suggestionswirkung der Anklagebank und dass auf die Wiedererkennung im Gerichtssaal erwiesenermaßen nichts zu geben sei. Ein Argument, das sonst nur von der Verteidigung angebracht wird.
Nach der schlechten Lichtbildvorlage im Ermittlungsverfahren aber und der fünffachen falschen Identifizierung im Gerichtssaal und keinen weiteren Beweisen gegen Claudia S. muss sich auch der Staatsanwalt fügen und beantragt letztlich einen Freispruch, der auch wenige Minuten später unter den empörten Bekundungen der Lebensschützer*innen ergeht.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.