Название: Bürgergesellschaft heute
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Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783950493924
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Nun gibt es im Deutschen ein begriffliches Problem, das die meisten anderen Sprachen nicht kennen. Im Deutschen bezeichnet der Begriff „Bürger“ sowohl den (vollberechtigten) Bewohner einer vormodernen Stadt wie den (vollberechtigten) Staatsbürger. Dagegen unterscheidet das Französische zwischen „citoyen“ (Staatsbürger) und „bourgeois“ (Stadtbürger, von „bourg“, das sowohl „Markt“ bedeutet, wie auch als „fauxbourg“ die „Vorstadt“), das Englische kennt sowohl den „citizen“ (Staatsbürger) als auch den „common“ oder auch „burger“ (Stadtbürger), das Italienische den „cittadino“ und den „borghese“. Klar, dass hier einerseits das lateinische „civis“ und die dazugehörige „civitas“ dahintersteht, andererseits ein germanisch-spätlateinisches „burgus“, was zunächst nur ein Kastell bezeichnete, später aber auch auf – eben – „bürgerliche“ Siedlungen, Märkte und Städte, überging.3 Auch in den slawischen Sprachen wird zwischen Staatsbürger (slowenisch „državljan“) und Stadtbürger (slowenisch „meščan“, ganz ähnlich russisch) unterschieden.
Aber auch im Deutschen bleibt, neben dem heimischen Wort, doch auch das vom „civis“ stammende „Zivile“ lebendig, zunächst einmal als Gegensatz zum Militär, aber auch sehr früh als Begriff, der ein bestimmtes – eben „zivilisiertes“, also gewaltfreies, gleichberechtigtes – Verhalten im Verkehr der Menschen miteinander bezeichnet. Im 16. Jahrhundert aus dem Französischen „civil“ entlehnt (vom lateinischen „civilis“), bedeutete es „bürgerlich“, „patriotisch, staatlich, öffentlich“.4 Im 18. Jahrhundert kam – im Zuge der Aufklärung – die Bedeutung „zivilisiert“ im Sinne von „aufgeklärt, gewaltfrei, gutes Benehmen“ dazu, wobei aber im Deutschen wohl auch noch immer die alte stadtbürgerliche Bedeutung von „Ehrsamkeit“ (eheliche Abstammung, ehrsames Verhalten) mitschwingen mochte. Dieses Verhalten erforderte eine rechtliche Normierung: 1789 definierte der große österreichische Aufklärer Gottfried van Swieten bereits die „bürgerliche Gesellschaft“ im Gegensatz zu „einer Horde wilder Menschen“ durch jene „Grundsätze ihrer Verbindung“, dass es „kein Recht ohne Verbindlichkeit und keine Verbindlichkeit ohne Recht“ gibt.5 Die „bürgerliche Gesellschaft“ (Staatsbürgergesellschaft) benötigt daher als Basis ein „bürgerliches Recht“, das ja nun in ebendieser Zeit kodifiziert wurde und 1812 als „Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch“ (ABGB)6 in Kraft trat. Schon in der Zeit Josephs II. begegnet uns erstmals der Begriff des „Staatsbürgers“ in der Gesetzgebung; auch das ABGB geht von einer gemeinsamen Staatsbürgerschaft der Bewohner jener habsburgischen („österreichischen“) Länder aus, in denen das ABGB in Kraft gesetzt wurde (nicht in Ungarn).
Aber war die „Gesellschaft“ nicht nur in Mitteleuropa, sondern auf dem ganzen Kontinent schon so weit, dass man sie als Gesellschaft gleichberechtiger Menschen ansehen konnte? Tatsächlich bestanden in den allermeisten Regionen noch feudale Abhängigkeiten. Die bäuerliche Bevölkerung, überall noch die Bevölkerungsmehrheit, konnte noch keineswegs als Teil dieser neuen, allgemeinen bürgerlichen Gesellschaft gelten. Die Französische Revolution setzte 1789 erstmals in Europa mit dem Sieg des Slogans „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ die Aufhebung aller feudalen Bindungen durch. Joseph II. hatte schon einige Jahre vorher für seine „österreichische Monarchie“ zumindest die Leibeigenschaft aufgehoben (ab 1781, zuerst für Böhmen), doch blieben die Bauern noch mit ihrem Grund und Boden von Grundherren abhängig. Diese Abhängigkeit existierte im Kaisertum Österreich weiter bis 1848, sie galt als Teil der „Landesverfassungen“, was auch bedeutete, dass diese Verhältnisse nicht vom ABGB erfasst wurden (sie galten also nicht als Pacht).
Die Genese der „bürgerlichen Gesellschaft“ in der Habsburgermonarchie
Wo können wir den gesellschaftlichen Kern für die neue „bürgerliche Gesellschaft“ suchen? Es waren zunächst die nicht hausrechtlich und nicht feudal abhängigen männlichen Personen – also in erster Linie Stadtbewohner, „Bürger“ im traditionellen Sinne, Inhaber eines Bürgerrechtes einer Stadt, die dem Herrscher (und nicht einem adeligen Herren) unterstanden. Vielfach aus diesem alten Stadtbürgertum heraus entwickelte sich seit Maria Theresia und Joseph II. eine neue bildungsbürgerliche Konfiguration, dominiert von Beamten, aber auch von Schriftstellern, Professoren, Lehrern und Wissenschaftlern, viele von ihnen im Staatsdienst (und nicht wenige Ex-Jesuiten, nach der Aufhebung des Ordens 1773). Daneben wuchs, als Folge des entstehenden überregionalen Marktes (und des fast ebenso wichtigen Marktes der rasch wachsenden Residenzstadt selbst) auch ein unternehmerisches Element, dessen Wohlstand jene Folie bildete, vor der sich später die bürgerliche Kultur des Biedermeiers entfalten konnte. Dieses neue Unternehmertum war zumeist durch ein staatliches Fabriksprivileg bevorzugt, d. h., sie konnten ihren Betrieb ohne jene Begrenzungen und Auflagen führen, die die einzelnen Zünfte, Zechen oder Innungen bisher vorgeschrieben hatten. Sowohl das neue Bildungsbürgertum als auch das neue Unternehmertum waren also Früchte des gerade erst entstehenden Staates.
Das nichtzünftische Unternehmertum, für das sich zum Unterschied vom Handwerksmeister bald die Bezeichnung „Fabrikanten“ einbürgerte, stand mit den neuen bildungsbürgerlichen Schichten zunächst nicht in Verbindung. Nur langsam erlangten auch die Unternehmer etwas von dem sozialen Ansehen, das den Bildungsbürgern schon früher zukam. Der Staat, der beide brauchte, zeichnete besonders hervorragende Mitglieder beider Gruppierungen durch Adelstitel aus.7
Solche Adelstitel (ein einfaches „von“ bis zum „Ritter von“ und höchstens bis zum Freiherren) bezeichneten jene „zweite Gesellschaft“, die (groß-)bürgerlich lebte und in der sozialen Position hinter dem traditionellen Hochadel rangierte, in der sich jedoch Wohlstand, Bildung, Geschmack und gehobene Umgangsformen mit wissenschaftlichen, künstlerischen und literarischen Interessen verbanden. Hier wurde Schubert verehrt und verkehrten Grillparzer und Bauernfeld. Grillparzer war über die Familie Sonnleitner auch familiär eng mit ihr verbunden. Diese Kreise waren die wichtigsten Auftraggeber der in Biedermeier und Vormärz neben Musik und Theater so rasch aufblühenden Malerei, deren Meister – Friedrich von Amerling, Moritz Michael Daffinger, Josef Danhauser, Peter Fendi, Josef Kriehuber, Ferdinand Georg Waldmüller – zahlreiche Porträts von Mitgliedern dieser Gesellschaft geschaffen haben.
„Zweite Gesellschaft“ und „Mittelstand“
Die „zweite Gesellschaft“ kann als Spitzengruppe jener neuen, bürgerlichen Klasse gelten, die sich selbst als „Mittelstand“ bezeichnete. Schon um 1770 ist aus Wien ein für das Selbstbewusstsein dieses neuen Mittelstandes bezeichnender Spruch bekannt:
„Niemands Herr und niemands Knecht
Das ist des Mittelstandes Recht.“
Der „Mittelstand“ steht also in der Mitte zwischen den Herrschaftsträgern (Herrscher, Bürokratie, Militär, Adel) und den noch immer feudaler Herrschaft Unterworfenen, also der Masse der Bauern, aber auch den hausrechtlich Abhängigen, Gesellen, Arbeitern, Dienstboten, Knechten und Mägden.
In einer in Leipzig 1842 anonym erschienenen Schrift, „Pia desideria eines österreichischen Schriftstellers“ bezeichnete Eduard von Bauernfeld alle geistig regsameren Segmente der Gesellschaft, „Professoren, Gelehrte, Künstler, Fabrikanten, Handelsleute, Oekonomen, ja, Beamte und Geistliche“ als jenen „Mittelstand“, der dringend nach einer Lockerung der Zensur, nach einer Änderung der politischen Zustände überhaupt verlangte, denn
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