Abb. 1.2 Ibn Muadh und Ibn Al-Haytham bestimmten im 11. Jahrhundert die Höhe der Atmosphäre.
Tiefergehende Anwendungen der Mathematik auf die Physik ließen noch einige Jahrhunderte auf sich warten. Dabei waren die Arbeiten von Sir Isaac Newton Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts ein fulminanter Startpunkt.
1.2 Newtonsche Mechanik
Newton war ohne Frage einer der großen Pioniere der modernen Physik. Sein zweites Gesetz der Bewegung ist eine der berühmtesten Gleichungen der Physik. Es beschreibt eine differentielle Beziehung zwischen dem Ort x t) und der Kraft F:
Während F und m physikalische Größen sind, ist die Beschleunigung a eher eine mathematische Größe, die als zweite Ableitung des Ortes nach der Zeit definiert ist. Je mehr die Physik sich bemühte, quantitative Aussagen über ihre Studienobjekte zu machen, desto stärker wurde die Mathematik zu einem zentralen Bestandteil ihrer Sprache. Newton musste ein komplettes Teilgebiet der Mathematik erfinden – die Analysis –, um sein zweites Gesetz in präzisen mathematischen Begriffen formal ausdrücken zu können. Dies ist aber nur eines von zahlreichen Beispielen, bei denen Anforderungen der Physiker an die Formulierung von physikalischen Gesetzen zur Entwicklung neuer Zweige der Mathematik führten. Umgekehrt führte auch die Mathematik zu neuen Erkenntnissen in der Physik. Im Laufe des Buches werden wir viele Beispiele für diese gegenseitige Verknüpfung und das Geben und Nehmen zwischen Physik und Mathematik kennenlernen.
1.3 Lagrangesche und hamiltonsche Mechanik
Die Untersuchung der mathematischen Grundlagen der newtonschen Mechanik in verschiedenen physikalischen Kontexten führte zu ihrer weitgehenden Neuformulierung sowie einigen neuen mathematischen Erkenntnissen. In den späten 1700er- Jahren schlug Joseph-Louis Lagrange z. B. eine neue, sogenannte ,,lagrangesche“ Formulierung der Mechanik vor, die dieselben physikalischen Ergebnisse wie die newtonsche Mechanik lieferte, aber auf dem ,,Prinzip der kleinsten Wirkung“ anstelle der Kraft beruhte. Die Wirkung ist ein Integral, das für jeden möglichen Weg, den ein Teilchen von seinem Startpunkt zu einem Endpunkt nehmen könnte, berechnet werden kann. Sie ist als S = ∫(K – V) dt definiert, wobei K die kinetische Energie des Teilchens und V seine potentielle Energie entlang des untersuchten Weges ist (siehe Abb. 1.3).
Das Prinzip der kleinsten Wirkung besagt, dass der Weg, dem das Teilchen tatsächlich folgt, derjenige ist, für den die Wirkung minimal ist. Wenn es mehrere Lö- sungen gibt, entspricht jede Lösung einem Extremum (einem Minimum oder Maximum) der Wirkung.
Abb. 1.3 Die lagrangesche Formulierung der Mechanik betrachtet alle möglichen Wege von einem Startzu einem Endpunkt. Der tatsächliche Weg – der Weg, den ein Teilchen natürlicherweise nehmen würde – ist derjenige, für den eine als Wirkung bezeichnete Größe minimal ist.
Diese neue Sichtweise machte es den Physikern einfacher, die Mechanik unter Randbedingungen (d. h. vorgegebenen Einschränkungen einer Bewegung) zu studieren, wie beispielsweise eine Kugel, die einen Hügel mit einer bestimmten Topographie hinunterrollt, oder einen Kreisel auf verschiedenen Oberflächen. Um die lagrangesche Mechanik zu formalisieren, entwickelten Leonhard Euler und Lagrange ein neues Teilgebiet der Mathematik, die sogenannte Variationsrechnung, die sich mit der Extremisierung (also Maximierung oder Minimierung) von Integralen entlang vorgegebener Wege befasst, deren Lösungen die Euler-Lagrange-Gleichung erfüllen. Dieser Prozess ist schwieriger als das Auffinden der Minima einer Funktion einer endlichen Anzahl von Variablen, da unendlich viele Wege zwischen zwei Punkten im Raum existieren und berücksichtigt werden müssen. In gewissem Sinn ist die Aufgabe daher gleichbedeutend mit dem Auffinden des Minimums einer Funktion (hier der Wirkung) unendlich vieler Variablen (die den Raum aller möglichen Wege bilden). Physiker können nun die Variationsrechnung nutzen, um den Weg mit der kürzestmöglichen Länge zu bestimmen. Die Neugestaltung der klassischen Mechanik im 18. Jahrhundert, die durch die Ideen von Lagrange und Euler angestoßen wurde, schuf die Voraussetzungen für spätere Querverbindungen zur Physik des 20. Jahrhunderts, insbesondere zur Quantenmechanik, die auf der Basis der ursprünglichen newtonschen Gleichungen nicht ohne Weiteres zugänglich gewesen wäre.
In einer weiteren Neuformulierung der klassischen Mechanik reduzierte William Rowan Hamilton die zweiten Ableitungen nach der Zeit auf erste Ableitungen, indem er dafür die doppelte Zahl von Variablen verwendete. Hamilton betrachtete sowohl die Ortsfunktion x t) als auch die Impulsfunktion p(t = mʋ t als grundlegende Variablen, anstatt allein x t) zu betrachten, wie es zuvor üblich gewesen war. Die hamiltonsche Mechanik, wie der neue Formalismus genannt wurde, markierte den Beginn des modernen Begriffs des Phasenraums – des Raums von Ort und Impuls. Auch die hamiltonsche Mechanik erweist sich in der Quantenmechanik als nützlich, wie wir später sehen werden. Heute betrachten wir die lagrangeschen und hamiltonschen Formulierungen der Mechanik als allgemeiner und grundlegender als die newtonschen Gesetze; sie sind aus diesem Grund auch breiter anwendbar. Dies veranschaulicht die Tatsache, dass die Axiome der Physik ebensowenig unver- änderlich sind wie die ihnen zugrunde liegenden Modelle. Beide können sich im Laufe der Zeit ändern und tun es auch.
1.4 Maxwells Theorie des Elektromagnetismus
Als James Clerk Maxwell mit der Arbeit an seiner Theorie des Elektromagnetismus begann, hatten Michael Faraday und andere bereits viele einzelne Aspekte der zugrunde liegenden Physik verstanden. Bei seinem Versuch, die zahlreichen bekannten Gesetze in einem Formalismus zu vereinen, entdeckte Maxwell eine mathematische Inkonsistenz zwischen den Gleichungen. Er löste das Problem, indem er seinen Gleichungen einen neuen mathematischen Term hinzufügte, der heute als Verschiebungsstrom bezeichnet wird. Dieser Term war im Labor schwer zu messen und daher bis zu diesem Zeitpunkt nicht entdeckt worden. Maxwell bemerkte schnell, dass seine um diesen Term vervollständigten Gleichungen die Existenz von Wellen aus elektrischen und magnetischen Feldern implizierten, die sich mit einer Geschwindigkeit bewegen sollten, die in etwa der zu diesem Zeitpunkt vermuteten Lichtgeschwindigkeit entsprach. Dies inspirierte Maxwell zu der Annahme, dass Licht nichts anderes als eine elektromagnetische Welle ist!3) Dies war ein weiterer schlagender Beweis für die Fähigkeit der mathematischen Logik, neue physikalische Phänomene vorherzusagen: Maxwells Korrektur ergab sich eher aus mathematischen als aus physikalischen Überlegungen. Seine Entdeckung einer einfachen mathematischen Inkonsistenz führte ihn zu der Schlussfolgerung, dass Licht aus elektrischen und magnetischen Störungen besteht, die sich durch den Raum ausbreiten – ein Triumph des menschlichen Denkens! Dies ist eines von unzähligen Beispielen, die zeigen, dass mathematische Prinzipien ausreichen können, um neue physikalische Gesetze zu begründen.
Die maxwellschen Gleichungen im Vakuum führen zu Gleichungen der Form
wobei F entweder das Magnetfeld B oder das elektrische Feld E bezeichnet. Die Lösungen dieser Gleichung sind elektromagnetische Wellen, die sich mit der Geschwindigkeit СКАЧАТЬ