Название: Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums
Автор: Nobert Reck
Издательство: Bookwire
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783786732716
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Die Erkenntnis etwa, dass auch »heilige Schriften« Erzeugnisse von Menschen sind, ist kein Sakrileg, sondern eine Einsicht, die zu einer tieferen und verständigeren Lektüre verhelfen kann. Texte von Menschen, Texte, die ihre Gestalt im Verlauf vieler Generationen gewonnen haben, müssen und wollen daraufhin befragt werden, welche Aussageabsichten ihre Verfasser und Verfasserinnen hatten, unter welchen Bedingungen sie entstanden sind, worauf sie antworteten und wofür sie eintraten. Auch wenn die historischen Rahmenbedingungen und Intentionen der Texte immer nur annäherungsweise erschlossen werden können: In der Frage danach drückt sich auch Respekt gegenüber denjenigen aus, die sich gegen unsere Interpretationen nicht mehr wehren können.
Die simple Alternative – die fraglose Lektüre der Texte als unmittelbarer Gottesbotschaft nämlich – macht aus der Bibel einen Fetisch, einen Götzen, dem man Herrschaftsmacht oder magische Vorhersagekraft zuspricht und dem man sich unterwirft (worüber sich schon biblische Autoren lustig machten: Jesaja 44,15–20). Diese Art des Umgangs mit der Bibel macht nicht sehend, sondern blind, indem sie zeitgebundene Aussagen für ewig gültig erklärt, die man dann nur »glauben« kann, ohne sie verstehen zu müssen.
Verschiedene Spielarten des Fundamentalismus gehen bis heute so mit der Bibel um. Am Beginn der Bewegung stand eine in den USA veröffentlichte Schriftenreihe, Fundamentals, die in den Jahren 1910 bis 1915 fünf unaufgebbare »Fundamentalien« des christlichen Glaubens festzuhalten trachtete: 1. die buchstäbliche Inspiration der Bibel und damit ihre Irrtumslosigkeit; 2. die Jungfrauengeburt; 3. das stellvertretende Sühnopfer Christi am Kreuz; 4. die leibliche Auferstehung; 5. die Göttlichkeit Jesu Christi und seine unmittelbar bevorstehende Wiederkehr zum Gericht über die Menschen. Das zielte unverkennbar gegen die kritische Bibelwissenschaft; doch der Gestus des Festhaltens an wenigstens fünf »unaufgebbaren« Wahrheiten verriet auch eine tiefe Verunsicherung: War Wahrheit wirklich Wahrheit, wenn man ihre »Unaufgebbarkeit« betonen musste? Gab man damit nicht schon zu, dass alles ins Rutschen geraten war? Offenbar grassierte die Furcht, der Glaube könne der Moderne entgleiten, wenn man nicht wenigstens einige fundamentale »Fakten« entschieden bekräftigte.
So ist der Fundamentalismus einerseits eine Reaktion auf die Entwicklungen in der Moderne und andererseits selbst ihr Produkt: Auch er hält sich an vermeintliche »Fakten«, indem er umstandslos die Bibel insgesamt als geschichtliche Wahrheit verabsolutiert und dabei nicht merkt, welcher ungeheuren Reduktion des christlichen Glaubens auf wenige Punkte er damit Vorschub leistet.
Spiegelbildlich steht dem die Verabsolutierung der Geschichte selbst gegenüber: die bereits angesprochene Faktengeschichte als erster und eigentlich einziger Zugang zur Wirklichkeit. Sie ist heute sehr viel weiter verbreitet als der Fundamentalismus – auch wenn ihr ein gewisser fundamentalistischer Beigeschmack ebenfalls nicht abzusprechen ist. Wie tief diese Art des Denkens ins westliche Bewusstsein eingedrungen ist, zeigt der Vergleich mit anderen Kulturen. Der Schriftsteller Peter Bichsel macht das anhand einer Reiseerinnerung anschaulich:
Als ich vor vier Jahren in Bali war, begann mich der balinesische Hinduismus zu interessieren. Er hat sich zweitausend Jahre unabhängig vom indischen Hinduismus entwickelt und zu einer faszinierenden humanen Form gefunden. Ich habe selbst eine religiös pietistische Vergangenheit, die ich ganz schön verdrängt hatte; in Bali packte es mich wieder. […]
Ein junger Balinese wurde mein Hauptlehrer. Eines Tages fragte ich ihn, ob er denn glaube, dass die Geschichte vom Prinzen Rama – eines der heiligen Bücher der Hindus – wahr sei.
Ohne zu zögern antwortete er mit »Ja.«
»Du glaubst also, dass Prinz Rama irgendwann irgendwo gelebt hat?«
»Das weiß ich nicht, ob der gelebt hat«, sagte er.
»Dann ist es also eine Geschichte?«
»Ja, es ist eine Geschichte.«
»Und dann hat wohl jemand diese Geschichte aufgeschrieben – ich meine: ein Mensch hat sie geschrieben?«
»Sicher hat sie ein Mensch geschrieben«, sagte er.
»Dann könnte sie ja auch ein Mensch erfunden haben«, antwortete ich und triumphierte, weil ich dachte, ich hätte ihn überführt.
Er aber sagte: »Es ist gut möglich, dass einer die Geschichte erfunden hat. Wahr ist sie trotzdem.«
»Dann hat also Prinz Rama nicht auf dieser Erde gelebt?«
»Was willst du wissen?« fragte er. »Willst du wissen, ob die Geschichte wahr ist, oder nur, ob sie stattgefunden hat?«
»Die Christen glauben, dass ihr Gott Jesus Christus auf der Erde war«, sagte ich, »im Neuen Testament ist das von Menschen beschrieben worden. Aber die Christen glauben, dass dies die Beschreibung von Wirklichkeit ist. Ihr Gott war wirklich auf der Erde.«
Mein balinesischer Freund überlegte und sagte: »Davon hat man mir schon erzählt. Ich verstehe nicht, warum es wichtig ist, dass euer Gott auf der Erde war, aber mir fällt auf, dass die Europäer nicht fromm sind. Stimmt das?«
»Ja, es stimmt«, sagte ich. (13 f.)
Was im balinesischen Hinduismus noch selbstverständlich möglich ist, ist in Westeuropa zerbrochen: Die biblischen Geschichten lassen sich im Rahmen des bürgerlich-westlichen Denkens nicht mehr ohne Weiteres als bedeutsam, als wahr erzählen und verstehen. Das historische Fragen führt beständig auf Abwege. Man fragt, ob etwas »stattgefunden« hat. Doch die dabei gewonnenen Erkenntnisse können die Bedürfnisse nach Sinn, nach einer tragenden Deutung des eigenen Daseins nicht erfüllen. Sie bleiben die »zufälligen Geschichtswahrheiten«, die schon Lessing für belanglos erklärt hat.
Am präzisesten hat in meinen Augen der Neutestamentler Wolfgang Stegemann erfasst, was hier geschehen ist. Mit Blick auf das 19. Jahrhundert spricht er von der »Historisierung aller Lebensbereiche«. Diese habe auch das Christentum ergriffen und bei der Lektüre der Bibel zu einem »historic turn« geführt:
Von jetzt an dienen nicht mehr die Bibel und ihre Erzählungen (von der Weltschöpfung bis hin zu den Geschichten über Jesus) als Referenzrahmen der Welterfahrung. Vielmehr fragte man sich umgekehrt: Passen die Erzählungen der Bibel noch zur »wirklichen« (wissenschaftlich erforschten) Welt? Die Geschichten der Bibel werden seitdem einer Kritik – einer Prüfung – unterzogen, die ihren Maßstab an der Vernunft bzw. den Wissenschaften findet. (259)
Diese »umgekehrten Fragen« waren die Fragen des aufgeklärten Bürgertums. In einer komfortablen Situation wollte es wissen, was zu ihm passte und was ihm plausibel erschien. Die Schrift diente ihm nicht mehr zur Befragung der eigenen Lebenssituation und zur Wahrnehmung der Welt aus einer anderen Perspektive – vielmehr diente nun die eigene Perspektive zur Beurteilung der Schrift und ihres Wahrheitsgehalts. Mit anderen Worten: Das zum »Herrschafts- und Bedürfnissubjekt in der Gesellschaft« (Metz, III/1, 50) aufgestiegene Bürgertum ließ sich nicht mehr von biblischen Erzählungen infrage stellen, sondern folgte eigenen Anschauungen und entschied selbst, was es für glaubhaft hielt. Natürlich fiel sein Urteil, das es gemäß den naturwissenschaftlichen und weltanschaulichen Überzeugungen der Zeit gewonnen hatte, in den meisten Fällen negativ aus: Die biblischen Erzählungen, so wie man sie verstand, waren mit den Wahrheitsansprüchen der neuen Zeit nicht vereinbar. Und damit hörten diese Erzählungen – trotz immer feinerer historischer Instrumentarien – auf, zu den Leuten zu sprechen.
Das gilt übrigens – bis heute – nicht nur für diejenigen, für die das Christentum darum nicht mehr diskussionswürdig ist, sondern auch für gläubige Christinnen und Christen: Sie können das geschichtliche СКАЧАТЬ