Название: Politisch motivierte Kriminalität und Radikalisierung
Автор: Stefan Goertz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Grundlagen der Kriminalistik
isbn: 9783783213515
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Einleitend muss festgestellt werden, dass charismatischer Prediger – mit oder ohne formelle islamisch-theologische Ausbildung – das Bindeglied zwischen den beiden Radikalisierungsfaktoren islamistische Ideologie und islamistische Milieus sind (Unterkapitel 2.1 und 2.2).
Die Rolle von charismatischen Führungspersönlichkeiten für religiöse und/oder politische Bewegungen ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Englischsprachige Autoren wie Gendron sowie Springer, Regens und Edger allerdings verweisen darauf, dass muslimisch geprägte Gesellschaften sowohl anfälliger für eine Fusion von Religion und Politik als auch den Einfluss von charismatischen Führern bzw. Predigern seien.[4] Lewis beweist empirisch, dass vom Islam geprägte Gesellschaften es über Jahrzehnte bis Jahrhunderte versäumt haben, in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und industrieller Entwicklung mit westlichen, demokratischen Staaten zu konkurrieren.[5] Vor allem, aber nicht nur islamistische Ideologen und Prediger predigen in Zeiten großer gesellschaftlicher Veränderungen, Krisen und Kriege die Wiederherstellung der glorreichen islamischen Vergangenheit als Ausweg in eine bessere Zukunft.[6] Um das Versagen des Islam, Wohlstand und zivilgesellschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten zu generieren, zu erklären, interpretieren islamistische Prediger regionale und weltweite Ereignisse als Verschwörung „des Westens gegen die weltweite muslimische Gemeinschaft (umma)“, wie folgendes Zitat zeigt:
This is a war against Islam. It is a war against Muslims and Islam. Not only is it happening worldwide, but it is happening right here in America, that is claiming to be fighting this war for the sake of freedom while it’s infringing on the freedom of its own citizens, just because they’re Muslims. (Anwar Al Awlaki, in der Dar Al Hijrah Moschee in Washington, USA, am 22.3.2002).[7]
Als Reaktion auf eine subjektiv wahrgenommene Aggression „feindlicher Akteure“ rechtfertigen islamistische Prediger die Notwendigkeit von Gewalt und des militanten Jihad als legitime (defensive) Mittel.[8]
Die wesentlichen Funktionen charismatischer Prediger im Kontext dieses Unterkapitels sind (1) das Erreichen potenzieller Sympathisanten und Aktivisten (Unterstützer, Planer, Täter) für ihre jeweilige Ideologie und (2) die Radikalisierung für die islamistische und/oder jihadistische Ideologie. Dabei können diese Sympathisanten und Aktivisten sowohl den gleichen kulturellen und sprachlichen Hintergrund wie der charismatische Prediger selbst haben als auch unterschiedliche kulturelle und sprachliche Hintergründe. Gerade die islamistischen Prediger, die Sympathisanten in der westlichen Welt zu erreichen versuchen, die nicht oder kaum Arabisch sprechen und nur wenig islamisch-theologisches Wissen haben, müssen im Sinne einer Zielgruppenanalyse möglichst viel über die persönlichen und sozialen Probleme ihrer potenziellen Sympathisanten und Aktivisten wissen und nutzen gleichzeitig auch das in der Regel nur gering ausgebildete islamisch-theologische Wissen aus.[9]
In einer ersten Phase des Erreichens potenzieller Sympathisanten und Aktivisten sind bekannte Narrative wie „die muslimische Welt wird vom Westen unterdrückt“, „die Palästinenser werden von Israel, den USA und der westlichen Welt unterdrückt“, „die muslimische Welt hat den wahren, reinen Glauben verloren und ein wahrer, reiner Glaube an die Worte und Taten Mohammeds und seiner Gefährten muss wiederhergestellt werden“, etc. taktisch hilfreich, wobei diese Narrative ab einem gewissen Zeitpunkt konkreter und näher an der Lebenswirklichkeit der Zielgruppe – zum Beispiel in westlichen Großstädten wie Paris, Berlin, London – sein müssen. Sozialwissenschaftlich kann festgestellt werden, dass Viktimisierungsnarrative historisch von sehr vielen gewalttätigen extremistischen Gruppen bzw. Bewegungen für ihre politisch-ideologische Agenda genutzt wurden und werden.[10]
Charismatische Prediger nutzen in ihrer Funktion als islamische Theologen – entweder formell oder informell ausgebildet – wortwörtliche Auslegungen von Koran und Hadithen, um daraus Moral und Legitimität abzuleiten. Fundamentalistische Auslegungen dem Literalsinn nach von Korantexten, die über 1.000 Jahre alt sind, auf die Lebenswirklichkeit von potenziellen Islamisten und Jihadisten im 21. Jahrhundert zu übertragen, schafft sowohl Probleme als auch manipulative Chancen für den charismatischen Prediger. Moralische Zweifel der potenziellen Islamisten und Jihadisten müssen rhetorisch und inhaltlich überwunden werden, Dualismen, Dichotomien („wahre Muslime gegen die Ungläubigen, bzw. die vom Glauben Abgefallenen“) müssen etabliert werden.
Dazu folgen charismatische Prediger der Strategie des religiös-politischen Exklusivitätsanspruches, der danach strebt, auf verschiedenen Ebenen potenzielle Anhänger und potenzielle Attentäter möglichst total einzunehmen. Ein strenges Befolgen der als „einzig richtig“ dargestellten religiösen Auffassungen, Gebote und Riten wird (teilweise) aggressiv eingefordert, offensives, öffentliches Missionieren gehört zu den Aufgaben. Im Rahmen der Teilnahme an (islamistischen, salafistischen) „Islamseminaren“ wird der Prozess der Indoktrinierung und weiteren Radikalisierung von charismatischen Predigern und Führungspersönlichkeiten und der Peergroup gefördert und vorangetrieben. Neben den „Islamseminaren“ werden auch sog. „Benefizveranstaltungen“, also Spendensammelaktionen für „Glaubensbrüder und Glaubensschwestern in Not“, für die Verfestigung der Ideologie genutzt, indem der Glaube durch die helfende Tat „gelebt“ und die sozialen Strukturen des salafistischen Milieus weiter vernetzt werden. An den oben aufgeführten Orten wird u.a. eine zunehmende Fixierung auf das Jenseits propagiert, wodurch das eigene, irdische Leben von sekundärer Bedeutung wird, was die letzten Schritte auf einem Radikalisierungsweg zur Tat, sprich: zu einem Anschlag, bedeuten kann.[11]
In islamistischen Milieus besteht eine hohe (gruppenbezogene) Valenz für ideologische Problemthemen. Die Gruppe verstärkt die individuellen Fähigkeiten, instinktive und/oder erlernte moralische Grenzen in Bezug auf das Verletzen Unbeteiligter zu überschreiten.[12] Wichtig festzuhalten ist hierbei allerdings, dass markante Unterschiede zwischen geistig-kognitiven und militanten Islamisten bestehen, wobei die militanten Islamisten eine verstärkte Neigung aufweisen, dem Druck der Peergroup nachzugeben.[13] Sageman legt den Schwerpunkt seiner Radikalisierungsanalyse auf die Rolle von sozialen Netzwerken – was auch den Rahmen von Moscheen oder Moscheevereinen inkludiert – und führt aus, dass Menschen aufgrund von sozialen Kontakten in den Phänomenbereich Islamismus driften und die religiös-politische Ideologie des Islamismus den auslösenden Faktor des Radikalisierungsprozesses darstellt.[14] Im Phänomenbereich islamistischer Radikalisierung wird hier zwischen Radikalisierung durch Gruppen und Radikalisierung durch „die Bewegung“ differenziert.
Während unter Radikalisierung durch Gruppen Polarisierung und Isolierung innerhalb von Gruppen zu verstehen ist, sind mit Radikalisierung durch „die Bewegung“ allgemeinere Narrative wie „die Unterdrückung der islamischen Welt durch den Westen“ etc. gemeint. Wichtig ist, dass sich charismatische Prediger auf beiden Ebenen bewegen können, sie können in der realen Welt das Mittel der Radikalisierung durch Gruppen nutzen und in der virtuellen Welt allgemeinere Narrative nutzen bzw. Doktrinen entwickeln (siehe Unterkapitel 2.3).
Der Radikalisierungsprozess durch Gruppen gliedert sich in das Auflösen alter (sozialer) Bindungen und Ideen, das Entwickeln neuer Bindungen und neuer Ideen sowie das Einfügen in ein neues Netzwerk sozialer Bindungen, die neue Werte bereitstellen und mit den nun Radikalisierten Taten vorbereiten.[15] Ob jemand entscheidet, sich einer Gruppe anzuschließen, die eine Gewaltstrategie verfolgt, hängt psychologisch und sozialwissenschaftlich analysiert u.a. ganz wesentlich von der Gruppe ab: „three factors determine, whether or not an individual supports violent or constitutional politics: ideology, social networks, and expectations of success“.[16] Sowohl sozialpsychologische Modelle als auch empirische Studien schlussfolgern, dass der Einfluss von Gruppen auf Individuen in Bezug auf Gewaltanwendung enorm hoch ist.[17]
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