Название: In den Meyerschen nahm alles seinen Anfang
Автор: Werner Hetzschold
Издательство: Автор
Жанр: Публицистика: прочее
isbn: 9783969405536
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Wie den Helmut Drechsler zog es Jan hinaus ins Grüne. Während der Wintermonate beobachtete er auf den verschneiten Feldern die vielen Hasen, die jetzt verschwunden, vielleicht fast ausgestorben sind. Im extrem kalten Winter hatten es die Kaninchen sehr schwer Nahrung zu finden. Viele überlebten nicht. Sie leben in einer Vielzahl von Bauen, die mit einem Netz von Gängen miteinander verbunden sind. Blind und ohne Fell kommen sie auf die Welt, öffnen als Nesthocker nach ungefähr zehn Tagen die Augen. In strengen Wintern dringt die Kälte in ihren Bau, lässt sie erfrieren. Der Nahrungsmangel führt auch zum Tod, denn die ursprüngliche Heimat dieser Tiere ist der Mittelmeerraum. Trotzdem haben sie bis heute überlebt, die Hasen offensichtlich nicht oder nur in geringen Populationen. Die Feldhasen wurden sicher ein Opfer der Monokulturen, der auf den weiten Feldern eingesetzten Maschinen. Für die Aufzucht der Jungen gräbt der Hase keinen unterirdischen Bau, er legt zu ebener Erde eine Erdmulde oder Sasse an, die er als Ruhelager nutzt und zur Aufzucht der Jungen. Behaart und sehend werden sie geboren. Als Nestflüchter verlassen sie gleich ihre Geburtsmulde, trotzen den Gefahren des Lebens.
Jan gehörte zu den wenigen Schülern, die nach dem erfolgreichen Abschluss der Grundschule die Erweiterte Oberschule besuchen durften. Er nahm an, dass er seine Delegierung für diese Bildungseinrichtung seinem sozialen Status zu verdanken hatte, denn unter sozialem Aspekt betrachtet, gehörte er zur Arbeiterklasse und nicht wie die Eltern seiner Mitbewerber zur Intelligenz. Er war der Einzige, dessen Eltern nicht Rechtsanwälte oder Ingenieure mit und ohne Einzelvertrag oder Ärzte waren. Er hatte den Eindruck, die Schulleitung schätzte sich glücklich, dass sie ihn als ihren Schüler auf die Erweiterte Oberschule delegieren konnten, denn außer ihm verfügten sie über keinen weiteren Antragsteller mit diesem sozialen Status. Bei den vielen Bewerbern aus Akademiker-Familien erhielten längst nicht alle die Zulassung. Im September begegnete Jan vielen ehemaligen Mitschülern an der neusprachlichen Oberschule wieder, die vorher abgelehnt worden waren. Er erfuhr, dass alle Bewerber aus seiner Klasse die Zulassung für die Abitur-Ausbildung empfangen hatten. Jan fand diese Entscheidung gerecht, denn er hatte immer das Gefühl gehabt, dass diese Klassenkameraden mehr wussten als er, denn sie wussten über Dinge Bescheid, die nicht in der Schule gelehrt worden waren.
Mit Michael war Jan befreundet. Nach der Schule hielt Jan sich oft bis zum Abend bei seinem Klassenkameraden auf. Gemeinsam fertigten sie die Schularbeiten an, spielten Fußball mit anderen Jungen, die in dieser teuren und vornehmen Gegend zu Hause waren, schauten fern. Jans Eltern waren äußerst zufrieden mit dem neuen Freundeskreis ihres Sohnes.
„Endlich werden dem Jungen Manieren beigebracht!“, sagte der Vater.
„Auch wird er sehr viel Neues kennen lernen“, ergänzte die Mutter.
Jans Eltern besaßen kein Fernsehgerät. Gerade so viel Geld konnten sie aufbringen, um sich ein schlichtes, einfaches Radio kaufen zu können. Ein Radio hatte sich Mutter schon immer gewünscht. Es erlaubte ihr, die Nachrichten zu hören und dann vor allem Musik. Mutter liebte Operetten und Opern. Nun war es ihr vergönnt, diesen Kunstwerken in der Küche bei der Arbeit lauschen zu können.
„Ist diese Musik nicht ein unvergleichlicher Kunst-Genuss!“, wiederholte Mutter immer wieder. „Das ist echte Kunst, mein Junge!“
Jan nickte nur.
„Nun sag doch mal was! Schließlich hat Gott dir eine Sprache gegeben, damit du dich mitteilen kannst.“ Ihre Stimme klang verärgert.
„Es ist unsterbliche Musik“, sagte Jan, dabei benutzte er Wörter aus ihrem Wortschatz.
Sie reagierte nicht.
Der Vater seines Klassenkameraden war wie viele Väter Arzt. Nachmittags suchte er seine Patienten auf, nahm seinen Sohn bei diesen Visiten per Auto mit. So bot sich Jan die Gelegenheit, einen großen Teil seiner näheren Heimat kennen zu lernen, der ihm sonst verborgen geblieben wäre. Bei diesen Fahrten erlebte er den regen Verkehr auf den Autobahnen, sah Fahrzeug-Typen, die er sonst nie zu sehen bekommen hätte, weil sie die schmalen Straßen und Gassen der Städte mieden. Während der Vater des Klassenkameraden am Steuer saß, fragte er seinen Sohn in Englisch, Französisch und Latein ab, führte Gespräche mit ihm über Politik, eigentlich über alles, was so im Fernsehen an Nachrichten ausgestrahlt wurde. Der Vater stellte viele Fragen, die Jan nicht hätte beantworten können. Michael war sehr redegewandt, musste erklären, erläutern, Zusammenfassungen geben. Alle diese Themen, die hier diskutiert wurden, kannte Jan nicht, weil sie nicht in der Schule behandelt wurden. Sie gehörten nicht zum Lehrplan, sie wurden einfach übergangen, nicht zur Kenntnis genommen, wie Jan begreifen musste. Michael musste sich mit einem Lehrstoff und mit Themen beschäftigen und auseinandersetzen, die unwichtig für die Schule waren, weil nach ihnen kein Lehrer fragte, sie in keiner Prüfung als Wissen abgefordert hätte. Wenn diese Themen aber für den Unterricht keine Bedeutung hatten, warum verlangte ihre Beherrschung dann Michaels Vater? Er wird doch seinen Sohn nichts Unnützes, vielleicht sogar Falsches abfragen? Dieses Erlebnis ging Jan nicht aus dem Kopf. Fragen wollte er nicht. Er befürchtete keine richtige oder eine ausweichende Antwort zu erhalten. Er musste selbst das Rätsel lösen.
Jan erkannte, dass er die besten Ergebnisse im Fach Deutsch erzielte und dafür den geringsten Arbeitsaufwand investieren musste. Für die Bewältigung der Naturwissenschaften, er dachte an die Fächer Mathematik, Chemie, Physik, musste er viel Zeit opfern, weil er nur schwer Zugang zu ihnen fand. Er versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, dass er naturwissenschaftlich unbegabt sei und dass später einmal eine berufliche Entscheidung auf diesem Gebiet für ihn nicht in Frage käme. Mit dem Deutschlehrer hatte er auch ein Glückslos gezogen. Er verstand es blendend, Jan für dieses Fach zu begeistern. Im Literaturunterricht wurde auch die Epoche der Romantik behandelt. Für Jan war es ein kurzer Streifzug. Die Dichter Novalis, Brentano und Heine wurden als typische Repräsentanten erwähnt, ihre Biografie beinhaltete nicht nur das Datum ihrer Geburt und ihres Todes. Besonders von Heinrich Heine war Jan begeistert. Dessen Sprache empfand er als äußerst zeitgemäß, geradezu modern, musikalisch, voller Rhythmik. Mit der Epoche der Romantik beschäftigte er sich intensiver als eigentlich notwendig war. In dem Zusammenhang erinnerte er sich an seine Kindertage, an die Spaziergänge mit seiner Mutter, an gemeinsame Museumsbesuche. Wieder begegnete er der Blauen Blume, dem Aushängeschild der Epoche der Romantik. Er erinnerte sich, dass damals die Mutter auch die Wortgruppe Blaue Blume benutzte, als sie ihm von den Dichtern erzählte, die entsprechend ihrer Kenntnis zu diesem Dichterkreis gehörten. Als junge Frau lieh sie sich in der Stadtbibliothek Bücher aus, in der über die Liebe zwischen Novalis und seiner Verlobten die Rede war. Auch damals auf dem Ost-Friedhof schwärmte sie von der Beziehung dieser beiden jungen Menschen und sah diese Bindung, diese Verlobung verklärt und rein. Von Sex war nie die Rede, nur von geistiger Verwandtschaft.
„Stell dir vor“, sagte seine Mutter damals auf dem Friedhof und auch jetzt wieder, „wie herrlich jung diese beiden Geschöpfe waren.“
Entsprechend Jans Erfahrung war Mutter die Einzige, die für eine solche Verbindung wie zwischen Novalis und seiner Verlobten den Begriff Geschöpf gebrauchte. Für Mutter hatte das Wort Geschöpf einen sehr hohen Stellenwert. Aus den klugen Büchern erfuhr Jan, dass die künftige Verlobte zu diesem Zeitpunkt, als sie sich das erste Mal begegneten, gerade einmal zwölf Jahre alt war. Sie hieß mit vollem Namen Christiane Wilhelmine Sophie von Kühn. Mit fünfzehn Jahren verstarb sie an Tuberkulose. Diese Krankheit hieß damals Schwindsucht. Vielen Operationen hatte sich diese junge Frau unterziehen müssen, aber alle Eingriffe waren vergebens. Sie konnte diese Krankheit nicht besiegen. Als Novalis ihr Tod mitgeteilt wurde, war er zutiefst verzweifelt und bewahrte und konservierte ihr Bild in seinen Dichtungen. Auch er ist nicht alt geworden. Er war keine dreißig Jahre alt, als er starb. Er gehört zu den Dichtern, die unsterblich bleiben.“
Mutter seufzte tief, war sehr nachdenklich geworden und fügte noch immer in Gedanken verloren hinzu: „Es waren andere Zeiten damals. Die Medizin war СКАЧАТЬ