Название: Das zerbrochene Mädchen
Автор: Fabienne Siegmund
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783966291026
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»Ich will euch ein Geschenk machen«, sagte sie, »denn wenn die Koboldprinzessin ihre Lieder gibt, darf dies nicht umsonst geschehen. Doch gut Ding will Weile haben — Nebel müssen fließen und Raben singen. Es wird kommen, wenn es an der Zeit ist.«
Sie neigte den Kopf zum Abschied und dann verschwanden sie alle: Mylady Muerte mit ihren Raben, die Nebelkinder und Little Eric.
Stella sah Mary an, halb lächelnd und halb traurig und zündete das dritte Streichholz des Kaminkönigs an.
Wie verheißen, brachte das Zündholz sie wieder nach London, setzte sie an den Ufern der Themse ab, wo Big Bens Turm über die Stadt wachte. Sofort tasteten kleine Hände sie ab und der Feenstaub kitzelte sie in der Nase. Selbst Mary wurde von den Pixies begutachtet. Auch wenn sie es nicht sehen konnte, sie fühlte es.
In den nächsten Tagen und Nächten erzählte Stella Mary alles. Vom Kuss des Koboldkönigs bis hin zu dem Kaminkönig.
Und dann ging das Leben weiter.
Die Stadt, in der alles lebendig war, bekam ein Auge, das sich drehen konnte. Die Mädchen fuhren oft in den gläsernen Gondeln des Riesenrades.
Sie sprachen oft über Little Eric und Mylady Muerte und dachten darüber nach, was wohl das versprochene Geschenk sein könnte.
Eines Nachts, der Winter streckte langsam seine Finger nach der Stadt aus, setzte sich mit einem Male ein großer Rabe auf die Gondel, in der sie saßen und klopfte dreimal mit dem Schnabel gegen das Glas.
McWhistle, der auf Stellas Schoß saß, flüsterte ihr zu, sie solle ihn hereinbitten.
Stella tat wie geheißen und sagte deutlich: »Herein.«
Der Rabe auf dem Gondeldach neigte kurz den Kopf, klopfte dann noch einmal an das Glas und flog plötzlich davon, über die Themse hinweg Richtung Tower.
Stella blickte den Brownie an, doch McWhistle sagte nichts. Und gerade, als Stella ihn fragen wollte, schlich sich Nebel in die Gondel, Nebel, der gefüllt war mit dem Ruß der Kamine.
Erschrocken hielten die beiden Freundinnen einander fest, in ängstlicher Erwartung wen die Jäger der Mylady Muerte nun holen wollten.
Doch dann baute sich die Gestalt aus Nebel und Rauch vor ihnen auf. In ihrem Inneren glitzerten sanft ein paar Sterne.
Und als Mary das Gesicht des Schornsteinfegers erkannte, löste sie sich von Stella und fiel dem Nebeljungen in die Arme, der sie so fest drückte, wie er konnte, weil in London alles lebendig war.
Das Wasser der Themse.
Die Gassen der Borroughs.
Die Häuser.
Aber vor allem der Nebel.
Das Orangenbäumchen
»Eine Ewigkeit, ein Schmetterlingsflügelschlag.«
(Christoph Marzi, Lumen)
»Alles«, sagte die Katze und zuckte unmerklich mit den Ohren, als sich irgendwo unter ihr eine Taube regte, »ist immer im Wandel. Nichts bleibt, wie es ist, und nichts ist für die Ewigkeit.«
»Ewigkeit«, sagte der Wasserspeier. »Das ist ein schönes Wort.«
»Es ist überbewertet«, sagte die Katze und verfolgte die Menschen, die tief unter ihr durch die Straßen strömten.
(Oliver Plaschka, Drachenschwingen)
Prolog
Der Topf mit der Erde steht vor mir. Ich halte den Orangenkern fest in meiner Hand. Noch ist es nicht Zeit, ihn fallen zu lassen. Ich schaue in den Himmel, der sich über mir im Muster meines kaleidoskopischen Lebens spannt. Gleich – gleich wird es soweit sein. Das Muster wird sich verschieben, das Kaleidoskop sich drehen.
Ich hoffe es funktioniert, Julie, auch wenn ich weiß, was ich tun muss, wenn es nicht klappt. Aber ich hoffe es. Es ist meine letzte Chance, dich in die Welt zurück zu holen. Die anderen habe ich bereits vertan.
Drei Chancen.
Drei Orangen.
Drei Träume.
Drei weitere Drehungen im Kaleidoskop.
Die Menschen, die um mich herumhasten, um den Eiffelturm zu sehen, jenes Stahlgestell, das das Antlitz der Stadt so verändert hat, beachten mich kaum. Wer beachtet schon einen Magier im Schatten des Eiffelturms?
Ich mag diesen Ort nicht wirklich. Und doch – es ist unser Ort. Hier trafen wir uns. Es ist dein Ort, Julie, hier hast du eine Weile gesessen, Tag für Tag, und den Leuten gelauscht.
Sie wissen, dass du fort bist. Sie müssen es einfach spüren. Schließlich ist jetzt niemand mehr da, der sie rettet. Mich hast du auch gerettet.
Aber wahrscheinlich tun sie es doch nicht. Sie sind blind. Waren es schon immer, auch, als du noch da warst, du, und das Orangenbäumchen, das in deiner kleinen Wohnung in Montmartre stand.
Ich spüre, wie sich über mir das Muster meines Himmels verändert. Du hast mir beigebracht, dass das Leben nichts anderes ist, als das Muster eines Kaleidoskops – ein Bild, dass wir betrachten und nach einer Weile scheinbar verstehen – bis es sich wieder ändert und wir wieder von vorne beginnen. Manchmal dauert es Jahre, bis ein Steinchen sich dreht. Manchmal vergehen nur Sekunden.
Bei dir und mir waren es drei Tage.
In meinen Ohren beginnt das vertraute Geräusch der Veränderung. Seit du fort bist, kann ich es erkennen. Die Steine, einer nach dem anderen, mischen sich, zuerst klackernd, dann alle zusammen, rauschend, neu.
Ich lasse den Orangenkern fallen. Meine Hand schwebt über dem Topf.
Es muss gelingen. Es muss gut werden, du musst zurückkehren. Es muss …
I
Julie. Unter diesem Namen kannte dich die Welt, als Stimme aus dem Radio.
Auch ich kannte dich von dort, aus deiner Sendung, die jeden Abend ausgestrahlt wurde. Gedichte und Geschichten hast du vorgelesen, manchmal ein Lied gesungen, und immer waren deine Worte mit einem Lächeln versehen, das man durch die Lautsprecher spüren konnte. Vor allem aber – und ich glaube, das war es, was die Sendung ausgemacht hat, hast du zugehört. Menschen haben dich angerufen, dir ihre Sorgen und Nöte geschildert, dir ihren Kummer und ihr Leid geklagt. Und obwohl du nie viel gesagt hast, stets legten sie am Ende des Gespräches mit einem Lächeln in der Stimme auf. Und auch die, die wie ich vor dem Radio saßen und einfach nur zuhörten, lächelten dann. Weil das Leid, das einen selber quälte, ein Stück kleiner geworden war, durch die Geschichte des Fremden, durch deine Stimme, dein Lächeln.
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