Es ist später, als du denkst. Rolf Arnold
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Es ist später, als du denkst - Rolf Arnold страница 6

Название: Es ist später, als du denkst

Автор: Rolf Arnold

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

Серия:

isbn: 9783035507430

isbn:

СКАЧАТЬ etwas für den, der um sie weiß.

      Diese Einsicht ist ernüchternd. Wenn wir nicht verstehen können, was das Sein von uns verlangt, können wir uns bloß zu einer Position entscheiden. Gleichwohl fällt diese Entscheidung weniger grundsätzlich, streng oder gar unverrückbar aus, wenn wir verstanden haben, wie wir uns beständig treu bleiben und wiederholen. Bloß erkenntnis- und beobachtungstheoretische Ignoranz kann um die Wirklichkeit kämpfen, und nur wer den begrenzten Zeithorizont verdrängt, taugt zum Dienen oder zum Herrschen. Beides muss ihm zur Farce geraten – eine Einsicht, welche Montaigne (1533–1592) zu der Feststellung führte:

      »Wer sterben gelernt hat, versteht das Dienen nicht mehr. Für den hat das Leben kein Übel mehr, der die Wahrheit einsieht; das Leben aufgeben ist kein Übel.« (Montaigne 1976, S. 16)

      Diese Befreiung von der Sorge ist zugleich der Beginn der Zivilisation mit ihren vornehmsten Maßstäben und ihrem Humanismus. Sie verdankt sich einer ethischen Motivation, keiner ontologischen Klärung – beides zu verschränken, d. h. die Ethik mit überzeugenden Argumenten aus einer Ontologie zu folgern, hat sich bislang als unmöglich, ja verhängnisvoll erwiesen. Die Maßstäbe eines zivilisierten und humanen Lebens können jedoch unser Tun auch leiten, wenn wir uns für sie entschieden haben. Und sie können auch unsere Hoffnungen speisen. Dabei nehmen wir als »genuine Weltfremdlinge« (Welsch 2012, S. 8) die Welt in Besitz, um bewusst das zu tun, was wir bereits immer tun konnten: die Welt mit unseren Konstruktionen und nach unseren Maßgaben zu erschließen – zunächst für uns und ohne anmaßende Geltungsversprechen für andere. Dieses Vorgehen ist nicht frei von Selbstwidersprüchlichkeit, wie Wolfgang Welsch in Erinnerung ruft: Wenn wir davon ausgehen müssen,

      »dass unsere Erkenntnisverfassung nur eine menschenspezifische und nicht eine universale ist und dass unsere Erkenntnismöglichkeiten deshalb limitiert sind, so dass wir nicht die Welt-an-sich, sondern nur eine von uns Menschen konstruierte Welt erkennen können« (ebd., S. 53),

      können wir letztlich nicht begründen, warum es sich so verhält und wie wir das belegen könnten. Welsch fragt deshalb zu Recht:

      »Aber woher weiß diese Denkform eigentlich, dass es sich so verhält? Wie vermag sie ihre eigenen Basisannahmen zu rechtfertigen? Sie kann es nicht, und sie versucht es auch gar nicht. Sie kann gar nicht wissen, dass ihre Grundannahmen zutreffen; dergleichen wirklich zu wissen ist durch den Zuschnitt dieser Konzeption ausgeschlossen.« (ebd., S. 53 f.)

      Unsere galaktische Einsamkeit ist somit eine doppelte: Wir wissen nicht, weshalb uns die Evolution hervorgebracht hat und welchem Zweck sie dient, gleichzeitig können wir uns über diese Fragen auch nur im Binnenraum unserer Sprach-, Erfahrungs- und Lebenswelt austauschen – ohne die Sicherheit, dass wir mit unseren Erkenntnissen tatsächlich über diesen Binnenraum hinaus reichen. Diese Selbstwidersprüchlichkeit, dass in konstruktivistischen Konzepten »mehr als sichere Erkenntnis vorgestellt wird, als man plausibel im Kontext konstruktivistischer Positionen belegen kann« (de Haan/Rülcker 2009, S. 61), kann jedoch nur demjenigen als »Problem« aufstoßen, der mit der Dezentralisierung des Menschseins seine Schwierigkeiten hat. Er verfolgt selbst eine grenzüberschreitende Intention und glaubt an die Möglichkeit universalisierbarer sowie objektiv gültiger Aussagen über das Sein oder über das, was man über das Sein zu erkennen vermag, ohne diese privilegierte Möglichkeit allerdings überzeugend herleiten und glaubwürdig letztbegründen zu können. Auch er hofft ohne Glaubwürdigkeit.

      Wir bleiben in unserer galaktischen Einsamkeit – erklärenden Sprachspielen lauschend, die uns jedoch nicht wirklich durchdringen und die die Grenzen unserer Lebenswelt und unseres Planeten nicht zu überschreiten vermögen.

      Zu letztbegründenden Fragen gibt es zahlreiche Vorarbeiten und Anregungen aus der Philosophie, kann diese doch geradezu als die Gesamtheit aller systematischen Bemühungen um Letztbegründungen angesehen werden. Einige dieser Positionen kennenzulernen, ist das Ziel der vor uns liegenden Suchbewegung. Es geht dabei um die nüchterne Fokussierung des Lebenszieles, auf das wir uns alle zubewegen – meist ohne Begriffe, Erklärungen und Konzepte, die uns das Erwartbare und (noch) Mögliche in den Blick zu nehmen helfen. Ontologische Ernüchterung kann uns dabei helfen, unsere restbiografische Orientierung »ohne Geländer« zu denken und zu gestalten, um eine Formulierung von Hannah Arendt aufzugreifen, welche auch diese Aufgabe, vor die sich jeder Mensch gestellt sieht, treffend zu charakterisieren scheint (vgl. Ahrendt 2006). Dabei entstehen Begriffe, Konzepte sowie auch zahlreiche »grenzunterschreitende« Vorschläge (vgl. Wolandt 1971, S. 171). Diese geben nicht vor, Gewissheiten zu stiften, wo diese nicht zu haben sind. Und sie trösten nicht, indem sie das Menschsein einer Seinslogik einordnen, die mit den menschlichen »Bestecken« nicht erschließbar ist. »Ohne Geländer« heißt: nüchtern und mit großem Mut, zwar ungetröstet und untröstbar, aber gleichwohl kreativ.

      Meist gehen wir erschrocken und sprachlos mit den Zusammenbrüchen und Todesfällen in unserer näheren Umgebung um und versinken nicht selten in Ratlosigkeit, wenn uns selbst erste Schwächungen und Einschränkungen erreichen, ohne das Bewusstsein, dass es gerade diese Begrenzung des Lebens ist, die ihm seinen tieferen Sinn zu stiften vermag. Und gleichzeitig belächeln wir die späten Aufbruchsversuche, die wir ebenfalls beobachten können: die verspäteten Bemühungen, nochmals von vorne zu beginnen, oft mit einer späten Elternschaft einhergehend, oder die mehr oder weniger erfolgreichen Bemühungen, sich selbst und anderen mithilfe von Kosmetik oder gar Schönheitschirurgie einen anderen restbiografischen Verfügungsrahmen vorzutäuschen.

      Solche Bemühungen mögen lächerlich anmuten. Sie mögen auch Ausdruck einer Vorstellung von Leben und Menschsein sein, die die Gewissheit ihres eigenen Verfallsdatums ausblendet. Wir sind offensichtlich kaum in der Lage, aus dem Blick auf das eigene Ende unserem Leben einen Sinn und eine Orientierung zu stiften. Aber haben wir etwas Substanzvolleres anzubieten als eine mehr oder weniger fatalistische Untergangsgeschichte? Könnten diese Inszenierungen einer andauernden Lebendigkeit nicht auch Ausdruck eines »trotzigen Dennoch« sein? Dies zumindest ist die Grundhaltung des Existenzialismus, für den dieses Dennoch sogar zu einer »Versteifung« wird, wie der Lebensphilosoph Otto Friedrich Bollnow (1903–1991) sie charakterisierte. Für ihn war diese Haltung jedoch ungeeignet, das Ganze der menschlichen Existenz zu erfassen, sie »entartet zu einer Haltung trotziger Versteifung, die weltlos in sich selber kreist, unfähig, die Realität außer dem Menschen zu begreifen und seine Aufgabe in ihr zu erfüllen« (Bollnow 2009, S. 269).

      Doch was ist dieses Ganze der menschlichen Existenz? Ist es in seiner biografischen Figur ausreichend erfasst, wenn wir mit ihm das Sein des Menschen in einer Lebenszeit in den Blick nehmen und danach fragen, welche Deutungen ihn sicherer zu einem absehbaren Endpunkt zu tragen vermögen? Dieser Blick lässt vieles offen, wie z. B. das eigene Sein im Raum. Weder seine galaktische Einsamkeit wird ihm erträglicher noch die Zufälligkeit seiner historischen und regionalen Existenz. Diese herauszunehmen aus den denkbaren Erklärungsversuchen mag verkürzend anmuten, aber haben wir bei nüchterner Abwägung unserer Möglichkeiten eine andere Wahl, als die, das Transzendente aus unserer Positionsbestimmung vollständig auszuklammern, um uns im Hier und Jetzt zu versteifen?

      »Im Kern geht es doch um die Frage, wie wir uns in unserer Zufälligkeit selbst bewusst werden können« – so der Zwischenruf eines Teilnehmers in dem erwähnten Seminar. »Mir gelingt dies – ehrlich gesagt – nicht. Ich weiß, dass ich mich zu jemand ganz anderem entwickelt hätte, wenn ich auf einem anderen Kontinent oder in einem anderen Zeitalter geboren worden wäre, und das macht mich nervös. Und ich kann auch nicht wirklich umgehen mit der Einsicht, dass dieser Planet, auf dem wir leben, in acht Milliarden Jahren von der Sonne verschlungen werden wird. Zu der Frage ›Wozu dann das Ganze?‹ habe ich keine Antwort, ich bin aber verwundert darüber, dass ich diese Frage aufwerfe. Irgendetwas in mir möchte nicht, dass das Menschliche untergeht: Wahrscheinlich das Gefühl, nicht umsonst gelebt zu haben! Wenn alles dereinst vergeht, frage ich mich, wozu wir dann noch hier einige Jahre zubringen sollen, wenn es nicht dieses verdammt schöne Leben zu leben gäbe! СКАЧАТЬ