Название: Der Schoppenfetzer und der Henkerswein
Автор: Günter Huth
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783429064921
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WÜRZBURG IN HEUTIGER ZEIT
Der technische Oberamtsrat der Wasser- und Schiffahrtsdirektion, Erwin Braun, betrachtete den Riss im zweiten Pfeiler der Alten Mainbrücke mit gerunzelter Stirn, dann sagte er: »Wahrscheinlich ist er nur oberflächlich. Ich denke, dass das Hochwasser nach dem langen Winter und dem starken Schneefall in einen Haarriss eingedrungen ist. Dann hat es gefroren, und das Eis hat das Mauerwerk weiter aufgesprengt. Es dürfte aber kein Problem sein, den Spalt wieder zu verschließen.«
Der Mann neben ihm wiegte bedenklich den Kopf, zog einen Zollstock aus seiner Hosentasche und schob ihn wortlos in den Spalt hinein. Mit einem kratzenden Geräusch verschwand der Zollstock im Pfeiler, ohne dabei auf Widerstand zu stoßen.
»Das geht ziemlich tief hinein«, stellte Norbert Wegmann, Techniker derselben Behörde, fest. »Beinahe einen halben Meter. Es fühlt sich fast an, als wäre im Pfeiler ein Hohlraum.« Er zog den Zollstock wieder heraus.
Die beiden Männer waren über eine Metallklappe, die vor der Figur des heiligen Kilian im Boden der Alten Mainbrücke eingelassen war, in den zweiten Pfeiler eingestiegen. Dort befand sich ein Raum, der ehemals für technisches Gerät genutzt worden war. Über eine weitere Eisentür kam man von dort wieder ins Freie und konnte über eine Metalltreppe auf den vorgelagerten Eisbrecher des Pfeilers hinabsteigen. So konnten sie den Schaden im alten Gemäuer aus der Nähe begutachten.
Erwin Braun machte ein ernstes Gesicht. »Wenn im Pfeiler wirklich ein bisher unbekannter Hohlraum sein sollte, müssen wir etwas unternehmen. Nicht, dass uns eines Tages der Kilian im Main versinkt.« Die Figur des Frankenapostels befand sich direkt über ihnen.
Wegmann zog eine vieldeutige Grimasse. »Ich schlage vor, wir fordern die technische Abteilung an. Die sollen mal mit einem Endoskop hineinschauen. Nur so können wir feststellen, welches Ausmaß der Hohlraum hat. So wild wird’s schon nicht sein. Wahrscheinlich reicht es, wenn wir Beton hineingießen.«
»Hoffentlich haben Sie Recht«, erwiderte Braun nachdenklich. Er hatte so seine Erfahrungen mit unerwünschten Überraschungen, die in alten Gemäuern stecken konnten.
Wegmann zog sein Mobiltelefon aus der Jackentasche. »Vielleicht haben wir Glück, und sie haben einen Einsatztrupp frei.«
Es dauerte nur eine halbe Stunde, dann kam ein Wagen des technischen Dienstes auf die Brücke gefahren. Die Touristen starrten das Fahrzeug neugierig an. Die Einheimischen reagierten meist verärgert, weil auf der Brücke ein Fahrverbot für Kraftfahrzeuge bestand.
»Jetzt müsse die mit ihre stinkende Dreckskarre scho uff die Alte Meebrücke fahr! Zu faul zum Läffe!«, erboste sich ein alter Würzburger, fand aber beim Publikum wenig Verständnis, weil die umstehenden Touristen ihn schlichtweg nicht verstanden.
Sehr schnell hatte sich um die Figur des heiligen Kilian eine Gruppe Neugieriger versammelt, die erstaunt beobachtete, wie die Männer durch die Klappe im Boden der Brücke verschwanden – und wenig später wieder auf dem Eisbrecher auftauchten. Kaum ein Würzburger wusste, dass die Alte Mainbrücke mit einer Anzahl von Kammern und Hohlräumen versehen war.
Einer der Techniker führte den langen Schlauch eines Endoskops in einen hohlen, teleskopähnlichen Stock ein, den er dann in den Spalt schob. »Eigene Entwicklung«, kommentierte er stolz, »weil sich der Schlauch sonst verbiegt.«
Das Gerät war an der Spitze mit einem Objektiv und einer Minileuchte ausgestattet. Am anderen Ende befand sich ein Griff mit integrierter Optik, die sich der Mann nun vor die Augen hielt.
Suchend bewegte der Techniker das Endoskop auf und ab. Plötzlich riss er seinen Kopf in die Höhe und schaute seine Kollegen verwundert an. Ungläubig presste er sein Auge nochmals an das Gerät.
»Das … das gibt es doch nicht!«, stieß er schließlich verdattert hervor.
»Was gibt es nicht?«, wollte Braun wissen. »Ist der Schaden so gravierend? – Jetzt reden Sie schon, Mann, und lassen Sie sich nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!« Braun wurde langsam ungeduldig.
Statt einer Antwort starrte der Techniker nochmals durch das Endoskop, dann reichte er es an Braun weiter. »Schauen Sie selbst! Ich habe das Gefühl, ich sehe schon am hellichten Tag Gespenster!«
Es dauerte einen Augenblick, ehe sich der Beamte mit dem Endoskop zurechtfand. Dann verharrte er lange Zeit in der gleichen Stellung. Schließlich nahm er es langsam vom Auge und reichte es wortlos an Wegmann weiter, der nun seinerseits einen Blick riskierte.
»Verdammt, das gibt’s doch nicht!«, entfuhr es ihm. Langsam nahm er das Gerät herunter. Auch er wirkte mit einem Mal betroffen. »Wenn Ihr auch einen Totenschädel gesehen habt, muss ich wenigstens nicht annehmen, dass ich den Verstand verloren habe.«
Braun griff sich das Gerät und schaute erneut hindurch. Wieder bewegte er den Stab in alle Richtungen. »Soweit ich erkennen kann, handelt es sich nicht nur um einen Schädel, sondern um ein ganzes Skelett.«
»Was machen wir jetzt?«, wollte Wegmann wissen und sah seinen Chef ratsuchend an.
Der zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, ein solcher Fall ist mir noch nicht untergekommen. Mir ist auch keine Vorschrift bekannt, wie zu verfahren ist, wenn man in einem Brückenpfeiler einen Toten findet.«
»Ich schlage vor, dass wir ganz einfach die Polizei verständigen!« Wegmann versuchte den Fund nüchtern zu betrachten. »Die sind für Mord und Totschlag wohl zuständig.«
Braun sah seinen Mitarbeiter verwundert an. »Wie kommen Sie auf Mord? Können Sie mir verraten, wie ein Mörder einen Menschen in diesen Brückenpfeiler hineinbekommen haben soll? An dieser Stelle des Pfeilers ist sicher seit ein paar hundert Jahren nichts mehr verändert worden! … Aber gut, holen wir die Polizei. Mir fällt im Augenblick auch keine andere Lösung ein. Sollen die sich mit dem Toten herumschlagen. Für uns heißt das jedenfalls, dass hier vorerst nichts verändert werden darf.« Er griff zu seinem Mobiltelefon und wählte die Notrufnummer.
Oben auf der Brücke hatten einige Passanten das Wort »Toter« und »Skelett« aufgeschnappt. Sofort machten diese Worte die Runde und sorgten für ein erregtes Gemurmel.
Wie es der Zufall wollte, war unter den Neugierigen auch Christian Schöpf-Kelle, freier Mitarbeiter der Würzburger MAIN-POSTILLE und immer hungrig nach Sensationen. Er war gerade auf dem Weg zum Brückenbäck gewesen, um dort mit einem Freund zu frühstücken. Dabei war ihm die Menschenansammlung um die Kiliansfigur aufgefallen. Zuerst dachte er, es sei nur eine Gruppe Touristen, bis ihn sein journalistischer Instinkt einen Blick über die Brüstung hatte werfen lassen.
Vergessen war das Frühstück, vergessen der wartende Kumpel. Sein Riecher sagte Schöpf-Kelle, dass hier eine Story schlummerte – und zwar, wie er dem Gerede der herumstehenden Menschen zu entnehmen glaubte, keine alltägliche. Jedenfalls würde er sich keinen Meter von hier entfernen, ehe er nicht wusste, was Sache war. Er hoffte auf eine Story, die für die Redaktion Würzburg Stadt geeignet war. Also eine Geschichte, die mitten hinein ins Zentrum der Aufmerksamkeit mainfränkischer Zeitungsleser zielte. Gut für sein Image!
Es dauerte nur eine knappe Viertelstunde, bis ein ziviler Pkw auf die Brücke rollte und hinter dem Wagen des technischen Dienstes zum Stehen kam. Zwei Männer stiegen aus. Schöpf-Kelle erkannte den älteren der beiden sofort: Sebastian Krämer, Leiter der Würzburger Mordkommission. Sein Puls beschleunigte sich! Wie er Krämer kannte, würde der sich nicht wegen einer Kleinigkeit hierherbemühen.
Krämer СКАЧАТЬ