Название: Nacht im Kopf
Автор: Christoph Heiden
Издательство: Автор
Жанр: Триллеры
isbn: 9783839269626
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Reflexartig wandten sie sich um, ehe sie beide in ihrer Bewegung erstarrten. Die Tür flog auf und Willy stürmte herein, in der Hand eine Axt, kein Blick zur Seite, kein Blick zu ihnen. »Verdammte Hexe!«, schrie er und schlug das Puzzle von der Wand.
9.05 Uhr
Jimmy Schauder setzte seine Brille auf und angelte das Smartphone vom Boden. Es war kurz nach neun, und er wusste, dass seine Mutter ihn jeden Moment aus dem Bett klopfen würde. Frühstück sei fertig, würde sie durch die Tür rufen und ihm gleichzeitig androhen, den Tisch abzuräumen, wenn er nicht sofort hinunterkäme.
Er rollte sich auf die Seite, knautschte das Kissen so zurecht, dass ihn die Brille nicht störte, und begann, »Fire Station 2« zu zocken. Seine Spielfigur war ein Feuerwehrmann, der innerhalb kürzester Zeit so viele Brandherde wie möglich löschen musste. Oberhalb der Spielfläche leuchteten seine verbliebenen Leben auf – er konnte selbst in einem der Feuer zu Tode kommen – und daneben lief ein Countdown mit der Spielzeit. Seit seine Chemielehrerin vor der Klasse einen Streifen Magnesium entflammt hatte, war Jimmy von Feuer fasziniert; besonders dessen Zerstörungskraft zog ihn in den Bann. Häuser und Scheunen, über die ein Feuertornado gewirbelt ist. Brennende Luftschiffe. Feindliche Unterschlüpfe, die er in »Shoot ’n Kill« mit dem Flammenwerfer ausradierte.
»Aufstehen!«, schallte es durch die Tür der Dachstube. »Frühstück ist fertig.«
Er sparte sich eine Antwort, denn der nächste Satz war schon im Anmarsch. Seine Mutter drohte ihm, den Tisch abzuräumen, wenn er nicht sofort käme. Also hob er sich in die Senkrechte, ohne das Spiel zu unterbrechen. Er hatte bereits 24 Feuer gelöscht und wollte sich nicht wegen Toast und Tee den Rekord nehmen lassen. Ihm leuchtete ohnehin nicht ein, weshalb seine Mutter immer so einen Aufriss ums Frühstück veranstaltete.
Er schlurfte zu seinem Schreibtisch, wo über der Stuhllehne seine Jeans und sein Pullover hingen, doch statt in beides hineinzuschlüpfen, pflanzte er sich auf den Stuhl. Er musste pinkeln und kniff nervös die Oberschenkel zusammen. Mit geübter Schnelligkeit rutschten seine Finger über das Display; diese Geschicklichkeit ließ Jimmys Vater an seinem eigenen Handy wie einen Grobmotoriker aussehen. Sein Vater hatte ihm das alte Smartphone geschenkt, nachdem er sich selbst ein neues gekauft hatte. Auch wenn Jimmy keine Karte zum Telefonieren besaß, konnte er wenigstens das WLAN benutzen und so die Spiele zocken, die er sich mit Erlaubnis seiner Eltern runterladen durfte.
Das Frühwarnsystem in seinen Ohren registrierte die Schritte seiner Mutter hinauf zu seinem Zimmer. Sogleich legten seine Finger einen Gang zu: Feuer löschen, Notruf empfangen, mit dem Einsatzwagen losfahren, das neue Feuer löschen, dem nächsten Notruf folgen, das Drücken der Türklinke ignorieren, Muttis Blick und Muttis Seufzen.
»Jetzt hab ich die Faxen dicke.«
Bevor sie ihm das Telefon aus der Hand hätte schnappen können, schob er es auf den Schreibtisch und beschwichtigte sie mit einer Salve von Entschuldigungen. Gern hätte er in Nullkommanichts seine Sachen angezogen, aber die Geschicklichkeit, die Jimmy auf dem Smartphone bewies, fehlte ihm in seinen Beinen. Er streifte sich umständlich die Hose über, danach den Pullover – und das alles unter den wachsamen Augen seiner Mutter.
»Vielleicht sollte Papa das Handy wieder einkassieren.«
»Ihr habt gesagt, solange ich meine Pflichten erledige …«
»Ich hab dich vor zehn Minuten gerufen.«
»Ich wusste nicht, dass Essen zu meinen Pflichten gehört.«
»Am Wochenende frühstücken wir zusammen. Wir sind keine Assis.«
»Und Papa?«
»Was ist mit Papa?«
»Der baut am Haus und kommt eh nicht.«
»Der macht wenigstens was.«
Er half seinem Vater gern, besonders, wenn er an eine der schweren Maschinen durfte. Das wiederum wollte seine Mutter nicht, weshalb er von seinem Vater nur die dümmsten Helferjobs aufgedrückt bekam. Wasser holen, um den Beton anzumischen. Ein Loch für einen Pfeiler ausheben. Irgendein Material abschleifen, allerdings mit Sandpapier und nicht mit dem Deltaschleifer. Und sobald sein Vater bei einer Zigarette pausierte, hing er genauso am Handy wie Jimmy sonst auch. Er zuckte mit den Schultern, schnappte sich das Telefon und rannte hinunter aufs Klo.
Noch vor der Morgenwäsche schrieb er Liane eine Nachricht. Dann schob er die Zahnbürste einmal in die linke Backe, einmal in die rechte, zum Schluss über die Vorderzähne und fertig. Mit einer Handvoll Wasser befeuchtete er sein Haar und kämmte sich den Pony zurecht. Lianes Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Komm vorbei, schrieb sie kurz und knapp. Wir zocken.
Er setzte sich auf den Toilettendeckel und betrachtete sein Smartphone, fixierte ihre Nachricht in der Hoffnung, es würde eine zweite folgen. Ein einziger Satz hätte ihm genügt: Wir können auch was anderes machen. Oder: Lass uns durch die Gegend streifen. Nein, verbesserte er sich. Liane würde nie durch die Gegend streifen sagen. Das waren die Worte seines Vaters gewesen, als er ihm hatte erklären wollen, was er in Jimmys Alter so getrieben habe. Durch die Gegend streifen. Unterstände errichten. Auf der Lauer liegen. Jimmy hatte das an die Scharfschützen aus seinem Lieblingsspiel erinnert. Sniper, die getarnt und regungslos verharren, um den Feind auszuschalten. Das hatte ihm gefallen.
Die Tür zum Badezimmer flog auf und seine Mutter trat ein, die Hand bereits ausgestreckt. Er wusste, was das bedeutete. Er sollte ihr das Telefon aushändigen. »Eine Nachricht noch«, bettelte er, und seine Mutter antwortete lediglich, dass sich sein Vater über jede Hilfe freuen würde.
Wie er erwartet hatte, standen nur die Margarine und das Glas Billignutella auf dem Tisch. Der Platz, wo sonst sein Vater saß, war natürlich leer. So viel zum Thema Wochenende. Von wegen die ganze Familie frühstückt gemeinsam. Alle schön beisammen, während im Ofen die Aufbackbrötchen dampfen. Sein Vater war bereits draußen und werkelte am Haus, seine Mutter strich in einem Prospekt die Schnäppchen an und statt der Brötchen gab es labbrigen Toast.
Jimmy rückte an den Tisch und klatschte sich die Schokocreme aufs Brot. Als er seinen Pfefferminztee süßen wollte, ermahnte ihn seine Mutter, und er stellte den Zucker zurück.
»Und was machst du heute?«, fragte sie ihn.
»Keine Ahnung.«
»Du kannst ja Papa helfen.«
»Ich bin mit Liane verabredet.«
Seine Mutter rollte mit den Augen, und Jimmy wusste nicht, ob ihre Reaktion den Schnäppchen im Netto galt oder seiner Verabredung. Sie leckte den Finger an, blätterte eine Seite um und sagte, ohne aufzuschauen: »Aber nicht wieder die ganze Zeit zocken.«
Liane, das einzige andere Kind im Dorf, besuchte wie er das Kant-Gymnasium und irgendwann hatten sie sich auf dem gemeinsamen Schulweg angefreundet. Liane besaß eine Playstation 4 – also nicht ihre Familie oder ihre junge Mutter, nicht einer der Brüder, die sie glücklicherweise nicht hatte, und auch kein gleichaltriger Freund, der ebenso wenig in ihrem Leben existierte. Liane besaß eine Playstation, nur für sich allein, und das verwandelte ein Mädchen aus der Nachbarschaft in ein wirklich cooles Mädchen.
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