Название: Lichtschacht
Автор: Anne Goldmann
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783867549622
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Sie öffnete die Terrassentür. Eine Rabenkrähe flog erschrocken auf. Kühle Luft strömte in den Raum und streifte ihre nackten Beine. Sie fröstelte und zog die Schultern hoch.
Das rote Ziegeldach lag im Schatten. Nichts deutete darauf hin, dass jemand dort oben gewesen war.
Sie musste geträumt haben. Hatte sich in ihrem Dusel etwas eingebildet. Ganz sicher!
Eine Schnapsidee. Sie hatte das Zeug beim Aufräumen von Steffis Chaos gefunden, gleich nach ihrem Einzug. Es ein paar Tage liegen lassen und es dann, schon ein wenig benebelt von den zwei Gläsern Wein, schließlich geraucht. Kein Wunder, dass sie Gespenster sah.
Aber: Die Frau hatte zu ihr herübergeschaut! Den Mann auf sie aufmerksam gemacht. Kifferparanoia, beruhigte sie sich. Sie dachte daran, wie sie einmal, vor vielen Jahren, in einer fremden Wohnung in regelrechte Panik verfallen war, als jemand klopfte. Sich sicher gewesen war: Polizei! Man kam sie holen. Sie hatte sich tot gestellt und kaum zu atmen gewagt. Später hatten sie alle darüber gelacht. Kommt vor. Das kennt fast jeder. Entspann dich, Lena!
Sie kniff die Augen zusammen und beugte sich vor. Hinter den Schornsteinen, zur anderen Seite hin, schien es eine Leiter zu geben. Man sah eine Art Geländer. Darunter lag wohl eine Terrasse. Man konnte mit wenigen Schritten auf der anderen Seite sein. Du hast dich da in etwas hineingesteigert! Die neue Umgebung, alles noch fremd, der Alkohol – und dann der Joint. Niemand war zu Schaden gekommen, niemand war abgestürzt. Alles in Ordnung, Lena. Beruhige dich. Würden Freunde so ruhig sitzen bleiben, wenn eine von ihnen vom Dach fiel? Eben.
Entschlossen wandte sie sich um. Ging ins Bad, duschte und wusch sich die Haare. Machte das Bett und schloss mit Schwung das Schlafzimmerfenster. Nun war auch der Kaffee fertig. Sie trank ihn im Stehen – langsam, in großen Schlucken –, goss sich noch eine Tasse ein und wanderte damit zum Schreibtisch. Im Hintergrund zwitscherte das Radio.
Keine Mail von zu Hause. Keine von Steffi. Sie überflog die Nachrichten und klappte ihr Notebook wieder zu.
Schnappte sich ihre Tasche, fuhr mit dem Lift nach unten und verließ das Haus. Im letzten Moment sah sie ein zerdrücktes, verschmiertes Stück gelber Hundescheiße und sprang zur Seite. Sie fand an einem Radständer Halt und kontrollierte ihre Schuhsohlen. Nichts, zum Glück. Schon mehrmals hatte sie fluchend am Randstein das stinkende Zeug abgekratzt und den Geruch dennoch bis ins Geschäft geschleppt. Sie war es nicht gewohnt, ständig auf den Boden zu schauen, und wollte sich auch nicht daran gewöhnen. Hunde, dachte sie im Weitergehen, gehörten einfach nicht in die Stadt.
Das große Fenster eines Cafés warf ihr Spiegelbild zurück. Sie strich sich die Haare hinter die Ohren und rückte ihre Umhängetasche zurecht. Ihre Arbeitskleidung war noch ungewohnt. Der kurze Rock wippte über ihrem Hintern, der ärmellose hochgeschlossene Pulli war ihr über der Brust ein wenig zu weit und warf Falten. Die Jacke immerhin saß wie angegossen. Schwarz und schlicht, hatte er beim Vorstelltermin letzte Woche verlangt. Ihre eigene Garderobe beschränkte sich auf einige Kleider, grobe Strickwesten und zwei Jeans. Zum Glück hatte Steffi Unmengen schwarze Klamotten.
Sie wich einer Baustelle aus. Die kleine Grube war nachlässig gesichert und wirkte völlig verlassen. Weit und breit kein Arbeiter, keine Baumaschine.
Ein alter Mann mit grauem Haarkranz und sein Hund blockierten das schmale Trottoir. Das kompakte struppige Tier stemmte seine Vorderbeine in den Boden und sah stur vor sich hin. »Komm«, lockte der Mann. Er ging ein wenig in die Knie und klopfte auf seinen rechten Oberschenkel. Der Hund reagierte nicht. Der Alte seufzte. »Na komm«, sagte er wieder und machte ermunternde Gesten. »Die anderen warten schon.« Der Hund hob eine Braue. »Kommst du jetzt – bitte?« Das Tier und sein Besitzer wechselten einen langen Blick, dann setzte sich der Hund gemächlich in Bewegung, beschleunigte und hoppelte schließlich neben dem Mann her. Lena grinste. Hier war klar, wer das Rudel führte.
An der Hausecke blieb sie stehen. Das Haus wirkte anonym, verschlossen. Im obersten Stockwerk gab es Terrassen. Wenigstens nachsehen! Das Tor war geschlossen. Am Klingelbrett nur Türnummern, keine Namen. Was hatte sie erwartet?
Sie wich einem Radfahrer aus, der ihr auf dem Gehsteig entgegenkam. Er zwinkerte ihr zu. Überrascht schaute sie ihm nach. Die Umhängetasche schlug gegen ihre Hüften. An der Ecke wandte er sich noch einmal um und winkte. Zögernd hob sie die Hand und ließ sie wieder fallen.
Ein Blick auf die Uhr: Sie musste sich beeilen. Sie fasste ihre Tasche fester, drückte sie gegen den Oberkörper und rannte los.
Außer Atem erreichte sie die Straßenbahn, dankte dem hageren, bekümmert wirkenden Fahrer, der mit der Abfahrt auf sie gewartet hatte, mit einem Lächeln und ließ sich auf den nächsten freien Sitzplatz fallen. Sie zog ihren Rock zurecht und stellte die Beine eng nebeneinander. Mit einem Ruck fuhr der Zug an, bimmelte und machte gleich darauf eine Vollbremsung. Ein dumpfer Schlag. Eine Frau schrie auf.
»Na alsdann«, brummte der Fahrer, als hätte er so etwas kommen sehen. Ein verbeultes Auto stand quer auf den Schienen, zwei blasse, verschreckte Gesichter starrten zu ihnen herauf.
»Betriebsstörung.« Die ersten Fahrgäste hasteten laut schimpfend zu den Ausstiegen, während der Straßenbahner Kontakt mit der Leitstelle aufnahm und der Autofahrer sich langsam aus seiner Starre löste und zu seiner Gefährtin hinüberbeugte.
Das hier konnte dauern. Besser, sie ging zu Fuß. Sie stieg aus, umrundete einen Pulk von Gaffern und beschleunigte den Schritt. Knapp fünfzehn Minuten später hatte sie ihr Ziel erreicht.
Das Haus war relativ neu. Ein begrünter Innenhof, Pflastersteine. Zweite Türe rechts, hatte er gesagt. Neben dem Eingang stand ein mit bunten Bändern geschmücktes Olivenbäumchen in einem lichtblauen Topf. Sie drückte den Handballen auf den Klingelknopf und wartete.
Der Mann war groß und hager. »Komm weiter«, bat er und wandte sich um. Er hatte schüttere, flaumige Haare am Hinterkopf – wie ein Baby – und keinen Hintern in der Hose. Der hübsche, fast quadratische Vorraum war mit Holzspielzeug und Schuhen zugemüllt. Keine Türen. Viel Holz und Glas. Und Grünpflanzen. In der Wohnküche saß der Rest der Familie um einen großen Tisch: Eine tatkräftig wirkende Frau mit halblangen glatten Haaren hielt ein Kleinkind auf dem Schoß, das wie ein Vogel den Mund öffnete, sobald sie sich ihm mit dem Löffel näherte. Gegenüber ein zerzaustes, etwas größeres Mädchen. Es hatte ein Müsli vor sich stehen und las in einem dicken Buch. Er stellte sie einander vor. »Magst du Kaffee?«
Lena nickte.
»Setz dich.«
Der Sessel vor ihr war von einer dicken Katze belegt. Sie ließ sich neben dem Mädchen nieder. Es kaute mit vollen Backen und warf ihr einen prüfenden Blick zu. Die Mutter schob mit dem Löffel die Breireste um den Mund des Babys zusammen und spachtelte sie ihm zwischen die Lippen. Alle drei hatten die gleichen großen blauen Augen.
Der Kaffee war gut. Lena nahm einen weiteren Schluck und stellte die Tasse ab. »Sie brauchen jemanden, der sich um die Katzen kümmert.«
»Katze«, sagte das Mädchen ohne aufzublicken und blätterte geräuschvoll eine Seite um. »Wir haben nur eine. Jonas. Der kann nicht mit.«
»Wir fliegen für zwei Wochen auf die Insel«, erklärte der Mann und nahm ihr gegenüber Platz. СКАЧАТЬ