Название: Auf der anderen Seite der Schwelle
Автор: Raimund August
Издательство: Автор
Жанр: Короткие любовные романы
isbn: 9783957448019
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Kein Wunder, meinte Sebastian, denn Ähnliches war ihm schon einige Male von Kriegsgefangenen erzählt worden, von Männern, die Jahre in diesen Lagern überlebt hatten und nun aus politischen Gründen bereits wieder über Jahre in der Enge dieser Zellen zusammengepfercht saßen …
Kapitel 11
Schloss und Riegel krachten, in der offenen Tür stand ein Schließer und der Stubenälteste leierte seine Meldung herunter.
„Strafgefangene Sebaldt und Kunzmann?“ Der Schließer sah fragend in die Zelle.
Verdammter Mist! Schon wieder eine Verlegung … schoss es Sebastian durch den Kopf und er sah kurz Totila an, der wohl eine ähnliche Vermutung hegte.
„Ja, hier“, sagten beide und Totila hob dazu die Hand.
„Und Strafgefangener Sebaldt?“, kam wiederholt die Frage des Schließers.
„Ja hier“: rief Sebastian und streckte beide Arme in die Höhe.
„Warum nicht gleich so“, murrte der Schließer. „Nehmen Sie Ihre Schüsseln.
Monatspäckchen abholen“, sagte er.
Erleichterung. Doch keine Verlegung! Rasch griffen sie nach ihren Schüsseln und traten hinaus auf den Gang.
Der Wachtmeister schloss die Zelle wieder ab. „Gehen Sie.“
Die beiden kannten das bereits und freuten sich auf ihr zweieinhalb Kilo Päckchen von zu Hause. So ein Päckchen durfte man aber nur bei guter Führung in Empfang nehmen, was immer das auch heißen mochte.
Die Ausgabestelle lag im Erdgeschoß des Zellenbaus. Als die beiden dort ankamen, standen bereits Gefangene wartend vor der offenen Tür einer ausgeräumten Zelle, gegen die von innen ein Tisch geschoben worden war. Drinnen beschäftigten sich zwei Wachtmeister und ein Kalfaktor mit den zur Ausgabe vorgesehenen Päckchen, die auf einem weiteren Tisch unter’m Fenster aufgestapelt lagen.
Die Freunde wussten ja bereits wie die Wachtmeister bei der Ausgabe dieser Monatspäckchen mit den oft liebevoll verpackten Lebensmitteln umgingen. Die Empfänger ärgerten sich zwar noch, aber wunderten sich schon nicht mehr darüber, wenn ihnen etwa eine Teewurst zerschnitten in die Aluminiumschüssel geworfen wurde; oder die Pappschachtel mit Würfelzucker, die aufgerissen und deren Inhalt zur zerschnittenen Teewurst in die Schüssel gekippt wurde. Schokoladentafeln aus dem Westen landeten ebenfalls aufgerissen und zerbrochen in der gleichen Schüssel zusammen mit Keksen, durchstochenen Streichkäseecken, Lachsschinken in Streifen geteilt, zerfetzten Mandarinen … alles Westsachen.
Zusammen bildete das eine seltsame Nahrungsmittelmischung. Bei seinem ersten Päckchen vor Monaten war er mehr verblüfft als empört gewesen angesichts des Lebensmittelgemenges, das er damals in seine Zelle getragen und verärgert vor den Zellengenossen auf den Tisch gestellt hatte. Die lachten darüber nur. Darin könnte ja eine Eisensäge versteckt sein oder kleine Sprengkörper, meinten die, „oder gleich eine Bombe“, sagte einer und alle lachten. Er war sich dabei etwas doof vorgekommen. „Das ist hier immer so“, hatten sie ihn beruhigt, alle Päckchen, vor allem die mit Westsachen vom Klassenfeind, würden so zerpitzelt. Das ärgerte ihn zwar immer noch, aber wenn er weiterhin Päckchen von zu Hause bekommen wollte, musste er’s hinnehmen wie es war.
„90 % Westwaren“, sagte einer, der Sebastians Päckchen als Nahrungsschüttung in dieser Aluminiumschüssel begutachtete.
„Ja und? Ist doch nicht verboten“, reagierte Sebastian.
Der andere lachte. „Das nicht“, sagte er, „aber das ärgert die natürlich, die selbst nicht wissen wie Westschokolade schmeckt. Die Mandarinen, Zitronen oder Apfelsinen nur aus den Päckchen der Gefangenen kennen und von Lachsschinken“, dazu wies er auf Sebastians Schüssel, „noch nie was gehört haben.“
„Und deshalb dieses Massaker da?“ Der Mandarinen-, Apfelsinen- und Zitronensaft war inzwischen teilweise vom Würfelzucker aufgesogen worden, auch Kekse erwiesen sich als aufgeweicht … „So’n Päckchen wie das da“, erklärte ein anderer, „kriegt hier nicht jeder. Schon schön, wenn einer Verwandte oder Freunde im Westen hat.“
Es gab also selbst hier noch Leute, bemerkte Sebastian, denen es in bestimmter Weise schlechter ging als anderen. Gemunkelt wurde aber auch schon, dass es diese Monatspäckchen der Angehörigen von draußen künftig nicht mehr geben solle.
Wenn Sebastian durch’s Gitterfenster nach draußen blickte musste er feststellen, dass Zeit tatsächlich vergehen konnte. Das Laub der alten Kastanien neben der roten Backsteinvilla draußen vor den Zuchthausmauern und der Obstbäume in der Laubenkolonie neben der Anstalt verfärbte sich braun, gelb und rot und zeigte an, dass das Jahr, das erste Zuchthausjahr der beiden Freunde, sich allmählich seinem Ende zuneigte und dann sagte Sebastian sich, dann noch nicht einmal ein Zehntel von zehn Jahren … Rückblickend kam ihm die gefühlte Zeit hier mindestens dreimal so lang vor wie die, die tatsächlich vergangen war. Mit der Zeit hat es was auf sich, ging’s ihm durch den Kopf, als er dort durchs Gitterfenster hinaus in die sich verändernde Welt blickte. Schade, meinte er, dass die von draußen keine Päckchen mehr schicken durften. Die Anstaltsleitung fühlte sich offensichtlich durch die Westprodukte provoziert meinten die Gefangenen und das schien der Wahrheit nahe zu kommen, wenn man daran dachte wie absichtlich zerstörerisch die Wachtmeister mit dem Inhalt dieser Päckchen bei der Ausgabe stets umgegangen waren.
Willkürliche Verlegungen in immer wieder andere Zellen hatten die Gefangenen über sich ergehen zu lassen. Damit wurde eine ständige Durchmischung der Häftlinge erst einmal der obersten Station erreicht, wobei es sich dort ausschließlich um Langstrafer handelte, die sich nicht zu sehr an einen zu vertrauten Umgang miteinander gewöhnen sollten.
Wie Sebastian von anderen erfuhr, die schon einige Jahre den Zellenbau bevölkerten, hatten sie je nach Länge ihrer Strafe einige Jahre in diesen Zellen zu verbringen, ehe sie zur Arbeit in anstaltseigene Werkstätten, etwa Polsterei oder Noppe verlegt wurden. Das sei dann, hörten sie, auch mit einem Umzug nach Haus1 verbunden. Es gäbe dort große Zellen die mit drei- und vierstöckigen Betten für etwa fünfzehn bis zwanzig Gefangene ausgerüstet seien. Aber bis dahin, sagten die beiden sich, lägen ja noch Jahre im Zellenbau vor ihnen.
Kapitel 12
„Strafgefangene Sebaldt und Kunzmann Sachen packen!“, hieß es eines Tages nach der morgendlichen Freistunde, wozu der Stationskalfaktor mit der Faust mehrmals gegen die Türe hämmerte. Die Ankündigung einer Verlegung brachte immer eine Verunsicherung der Betroffenen mit sich, denn es konnte sich dabei um den Umzug in eine andere Zelle handeln, aber auch um den Transport in eine andere Anstalt.
Als dann das Schloss krachte und die Tür aufgestoßen wurde stand dort der Wachtmeister und winkte mit dem langen Schlüssel: „Kommen Sie!“
Die beiden traten, ihre Deckenbündel in den Armen, auf den Flur.
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