Название: Wenn alle Stricke reißen
Автор: Beate Vera
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783955522087
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Im Geiste ging Glander bereits durch, was als Nächstes zu tun war. Die Ortung von Taras Handy würde vermutlich nichts ergeben, sie würden es dennoch versuchen. Sie mussten sich ein detailliertes Bild von Tara und ihrer Familie sowie von den Lebensumständen des Mädchens machen, ihre wöchentlichen Aktivitäten von der Schule bis hin zu Hobbys akribisch in einem Zeitplan notieren und Freunde und deren Familien durchleuchten. Auch die Nachbarschaft mussten sie abklopfen und fragen, ob jemand verdächtige Personen oder Fahrzeuge bemerkt habe. Glander hoffte, dass Frau Berthold dem Druck standhielt und ihnen möglichst viele Informationen geben konnte. Er strich sich durchs straßenköterblonde Haar und ging zurück ins Wohnzimmer.
Lea hatte die Einkäufe gerade in der Küche abgestellt, als es an der Haustür klingelte. Sie öffnete und sah sich einer jungen Frau gegenüber, die sie auf Anfang dreißig schätzte. Sie war etwa einen halben Kopf kleiner als sie selbst, die beinahe 1,80 Meter maß, hatte lange, gelockte rabenschwarze Haare und große dunkle Augen. Ihr voller Mund war mit einem matten Lippenstift in einem dunklen Rosa geschminkt. Sie trug bis etwas über die Knöchel hochgekrempelte Boyfriend-Jeans, grüne Converse High Tops, ein weißes Unterhemd aus Lycra und darüber ein kariertes Männerflanellhemd, das den Grünton ihrer Schuhe aufgriff. Die Frau hatte eine sehr ansehnliche Oberweite und einen Teint, den deutsche Boulevardmedien gerne als südländisch bezeichneten. Vor Lea stand eine Frau, derentwegen Männer Dummheiten begingen.
»Aman Allahim! Scheiße, ist der riesig!«, entfuhr es der Frau, als sie Talisker sah, der neben Lea stand. »Ich kann gar nicht gut mit Hunden. Also, ich hab richtig Schiss vor denen.«
»Sit, Tally!«, befahl Lea ihrem Hund, der sich sofort setzte.
Die Frau sah verwundert zuerst den Hund und dann Lea an. »Das ist ja ungewöhnlich, dass hier jemand englisch mit seinem Hund spricht.« Sie streckte Lea die Hand entgegen. »Ich bin Merve, Glanders Partnerin. Er hat mich gebeten, seinen Laptop mitzubringen.«
Das war also Merve Celik, die Frau, mit der Glander sich selbständig gemacht hatte. Lea hatte sich seine Partnerin ganz anders vorgestellt: älter, gediegener – und bei weitem nicht so attraktiv. In ihrem Kopf schwirrten plötzlich eine Menge Gedanken umher, und keiner davon gefiel ihr so richtig. Sie sammelte sich. »Lea Storm, freut mich. Talisker war die englischen Befehle schon gewohnt, als mein Mann und ich ihn übernommen haben. Da ich wie mein Mann fließend Englisch spreche, haben wir uns nie die Mühe gemacht, ihm alles auf Deutsch beizubringen. Aber kommen Sie doch herein!« Lea tendierte dazu zu faseln, speziell wenn sie nervös war. Sie fragte Merve Celik: »Was ist denn eigentlich passiert?«
Merve zuckte mit den Schultern. »Ich weiß selbst noch nicht sehr viel. Eine Schülerin vom Albrecht-Berblinger-Gymnasium ist verschwunden, und die Eltern haben eine Lösegeldforderung erhalten. Wir werden versuchen, das Mädchen zu finden, gegebenenfalls übernehmen wir die Geldübergabe. Die Mutter weigert sich, die Polizei zu verständigen. Im Moment können wir nur darauf warten, dass die Entführer wieder Kontakt aufnehmen. In der Zwischenzeit werden wir so viel wie möglich über das Mädchen und seine Familie in Erfahrung bringen. Der Vater ist Neurochirurg im Virchow, der Familie wird es also an Geld nicht mangeln.«
Lea sah Glanders Partnerin erschrocken an. »Handelt es sich etwa um Tara Berthold?«
Merves Augen weiteten sich. »Sie kennen das Mädchen?«
Lea nickte. »Ja, wenn auch nicht sehr gut. Sie ist ein paar Jahre jünger als mein Sohn. Duncan ging auf dieselbe Schule wie Tara, und sie waren beide in der AG Theater und Musik. Die Truppe hat sich manchmal bei uns getroffen und Texte einstudiert. Einer der Jungs aus der Gruppe wohnt auch hier in der Straße, Tobi Verheugen. Er ist ein ehemaliger Klassenkamerad meines Sohnes, die beiden sind Freunde geblieben. Wie kurios, ich habe ihn gerade heute Morgen getroffen! Die arme Frau Berthold, sie ist sicherlich krank vor Sorge.«
»Glander sagt, sie ist einigermaßen gefasst. Frau Storm, können Sie mir mehr über diesen Tobi erzählen?«
»Sagen Sie doch bitte Lea! Tobi ist ein netter Kerl, sehr sportlich und ziemlich begabt in Mathematik. Er hat eine kleine Schwester, zwischen den beiden liegen zehn Jahre. Klara kam mit einer Behinderung zur Welt, das war nicht einfach für die Familie. Tobi war ein fröhlicher Junge, aber nach der Geburt seiner Schwester veränderte er sich sehr. Es ist nicht leicht, wenn der Kronprinz entthront wird. Die Eltern haben sich bestimmt Mühe gegeben, aber sie konnten mit seiner Eifersucht nicht umgehen. Ihre ganze Sorge galt dem Baby. Tobi war schon immer als Klassenclown und Störenfried verschrien, aber ab der neunten Klasse bekam er immer mehr Probleme und wäre beinahe von der Schule geflogen. Gezielte Tests führten schließlich zu der Diagnose ADHS. Seitdem nimmt Tobi Medikamente, er hat eine Therapie gemacht, und jetzt geht es ihm besser. Die Krankheit und ein Jahr im Ausland kosteten ihn aber zwei Schuljahre.«
»Was machen die Eltern?«
»Die Mutter arbeitet in der Redaktion einer Tageszeitung, der Vater in der angeschlossenen Druckerei. Tobi war immer schon viel sich selbst überlassen, Klara geht auf eine Ganztagssonderschule – sorry, in ein sonderpädagogisches Förderzentrum mit Ganztagsbetreuung, das heißt ja heute alles anders. Abends kümmert sich die Oma um die Kinder, bis die Eltern nach Hause kommen. Sie lebt in der Seniorenwohnanlage nicht weit von hier. Tobi hat vor zwei Jahren in den Ferien ein Schülerpraktikum in der Firma meines Mannes gemacht. Er hat wohl einen guten Eindruck hinterlassen, alle waren sehr angetan von ihm.«
»Und was wissen Sie über die Bertholds?«
Lea schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nicht sehr viel. Tara machte auf mich immer einen zurückhaltenden Eindruck. Sie ist ein sehr hübsches Mädchen, aber nicht eingebildet. Auch merkt man ihr nicht im Geringsten an, dass sie aus einem betuchten Elternhaus kommt. Ihr Vater gehört wohl zu den Topgehirnchirurgen. Er hat der Schule seiner Tochter einen Raum für naturwissenschaftliche Experimente gesponsert und ist bezirkspolitisch engagiert. Zumindest war er das, als Duncan die Schule noch besuchte.«
»Was ist mit Taras Mutter?«
»Sie kenne ich kaum. Es gab ja bis auf die Theater-AG keine Berührungspunkte zwischen Tara und Duncan. Das Aussehen hat Tara aber eindeutig von ihrer Mutter, und ich nehme an, auch das freundliche Wesen. Ich habe Frau Berthold als auffallend schön in Erinnerung. Die arme Frau, ich mag mir gar nicht ausmalen, wie es ihr jetzt geht.«
»Lea, ich bin sicher, wir kommen noch einmal auf Sie zu. Je mehr Einblick wir in Taras Umfeld haben, desto leichter können wir herausfinden, wer es auf die Familie abgesehen haben könnte. Wissen Sie, wo Glanders Laptop ist? Und könnten Sie ihm einen Satz Wechselwäsche und sein Waschzeug zusammenpacken? Wir werden uns vorerst bei den Bertholds einrichten müssen.«
Lea nickte. »Natürlich. Wenn Sie mich kurz entschuldigen, das dauert nicht lange.«
Während Lea Glanders Sachen zusammensuchte, schaute sich Merve die gerahmten Fotos an, die auf einem Sideboard im Wohnzimmer standen. Sie zeigten Lea über einen Zeitraum von rund zwanzig Jahren. Glanders neue Freundin stand auf jedem Foto an der Seite eines großen, gutaussehenden dunkelhaarigen Mannes mit dunklen Augen und eindringlichem Blick. Der Junge, der in der Bildergalerie vor Merves Augen an der Seite seiner Eltern heranwuchs, hatte die kastanienbraunen Haare, die grauen Augen und das strahlende Lächeln seiner Mutter und wirkte doch wie ein Abbild seines Vaters. An der Treppe hing ein mit Bleistift gezeichnetes Porträt von Leas Mann, das den Blick auf sich zog. Die Storms waren eine schöne Familie gewesen, und Merve ahnte, wie hart der Tod ihres Mannes Lea getroffen haben musste. Ob Glander wirklich wusste, worauf er sich einließ?
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