Название: Geschichten aus dem Alltag
Автор: Susanne Wilting
Издательство: Автор
Жанр: Публицистика: прочее
isbn: 9783959632263
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Auf dem Weg zur Hauptapsis bemerkt Harald rechts einen goldenen Schimmer. Neugierig schlendert er darauf zu und bleibt vor einem Bildnis stehen, das einen männlichen Heiligen darstellt. Das Gemälde im Hochformat zeigt kein vollständiges Rechteck, denn die obere Seite bildet ein sanftes Oval. Der goldene Heiligenschein der Figur wird dadurch zusätzlich betont. Warme Rot- und Goldtöne dominieren das Bildnis. Der Heilige trägt ein rotes Gewand, in den Händen hält er einen Palmzweig. Angestrengt überlegt Harald. Bedeutet das nicht, den Tod besiegen oder den Eintritt ins Paradies? Mehr fällt ihm dazu spontan nicht ein. Harald spürt eine gewisse Faszination die von dem Heiligen ausgeht, der den Betrachter sanft, milde und doch so beharrlich anblickt. Das erste Mal in seinem Leben fühlt Harald Ergriffenheit vor einem religiösen Bildnis. Erstaunt über sich selbst, denn er hat sich in den letzten Jahren zunehmend von Religion und allen Glaubensfragen distanziert, bis hin zum vollständigen Atheismus. In Betrachtung und Gedanken versunken, vergisst er, das Bildnis zu fotografieren und plötzlich bemerkt er, dass er nicht mehr alleine vor dem Heiligenbild steht.
Ein Priester steht neben ihm, lächelt ihn an und grüßt leise. Lebhaft deutet der Priester auf den kleinen Kunstreiseführer und fragt in gutem Deutsch, ob Harald sich für das Heiligenbild interessiert.
Verwundert nickt er stumm.
Einen Moment stehen die beiden Männer einträchtig schweigend vor dem Bildnis.
Der Priester tippt Harald sanft mit dem Ellenbogen an, deutet mit dem Kinn auf einen Mann, der hektisch versucht, den berühmtesten Kunstschatz der Kirche, eine Pieta aus Sandstein, die wahrscheinlich im 15. Jahrhundert gefertigt wurde, zu fotografieren. Der Mann trägt einen einfachen Strohhut unter den Arm geklemmt, sein Gesicht ist stark gerötet, vermutlich vom steilen Aufstieg zum Dom. Er bewegt sich immer ungeduldiger, doch die Lichtverhältnisse in der Kirche erfordern technisches Geschick und Erfahrung, um die Pieta in ihrer ganzen Schönheit abzulichten. Sein Geduldsfaden reißt, er stülpt den hinderlichen Hut kurzerhand über eine auffallende, große antike Vase, die gerade neben ihm steht.
Sowohl Harald als auch der Priester versuchen, ihr Lachen zu unterdrücken. Der Priester konzentriert sich fest auf das Heiligenbild. Harald sieht nach unten, er zählt erst schwarze, danach weiße Marmorsteine im Fußbodenmosaik. Vergebens, beide glucksen mal lauter, mal leiser vor sich hin. Deshalb verspricht der Priester Harald kichernd einen guten Espresso und einen Blick in einen wertvollen, antiquarischen Kunstband. Dieses wertvolle Buch stammt noch von seinem kunstbegeisterten Vorgänger und zeigt ganz ähnliche Heiligenbilder.
Der Priester bemerkt, dass Harald unsicher zu Sigrid hinüberblickt. Sofort versichert der Geistliche, dass er ihn nur wenige Minuten aufhalten wird.
Sigrid steht mittlerweile interessiert vor einem Kunstschmiedegitter, das die linke Seitenapsis verschließt. Aus den dürftigen Informationen des Reiseführers weiß Harald, dass dieses Gitter kunstgeschichtlich interessant ist. Außerdem befindet sich in der Seitenapsis der Domschatz. Harald ist sich sicher, dass Sigrid hier einige Zeit andächtig vor repräsentativen Prunkgegenständen verbringen wird. Diese übertriebene Pracht lehnt er selbst strikt ab. Ihm fallen TV-Sendungen ein, die er bevorzugt, besonders Talk-Shows, in denen Fragen der Doppelmoral, die die Institution der Kirche betreffen, kontrovers beleuchtet und diskutiert werden. Bei solchen Gelegenheiten sitzt Sigrid kerzengerade auf dem Sofa, ihr Mund nur noch zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Mindestens dreimal pro Sendung bemerkt sie, dass parallel ein Krimi läuft, begleitet von gequälten Seufzern an kritischen Stellen.
Vielleicht bietet sich hier und jetzt eine Gelegenheit für Harald, einmal selbst, sozusagen vor Ort, seine Meinung zu äußern. Entschlossen nickt er dem Priester zu.
In stillschweigendem Einverständnis huschen die beiden Männer durch eine schwere Holztür in die Sakristei. Als die uralte, mit Schnitzereien verzierte Tür leise hinter ihnen zuläuft, lachen sie erleichtert. Einige Minuten später sitzen sie bei einem vorzüglichen Espresso und betrachten in aller Ruhe mittelalterliche Heiligenbilder in dem antiquarischen Kunstband. Nach und nach kommen sie ins Gespräch, dabei fühlen sie sich spontan vertraut, als ob sie sich schon jahrelang gut kennen.
Beim zweiten Espresso fragt der Priester Harald nach seinem Vornamen und Harald erfährt, dass der Priester Ettore heißt.
Obwohl sich Harald als Atheist betrachtet, kostet es ihn Überwindung, den Priester zu duzen. Energisch schiebt er seine Skrupel beiseite und konzentriert sich auf sein sympathisches, lebhaftes Gegenüber. Schon vergisst er Weihe und Amt seines Gesprächpartners. Beide Männer spüren, dass eine besondere Freundschaft entsteht, genießen die Freude darüber, ohne große Worte zu verlieren.
Laut und temperamentvoll, von Gesten lebhaft untermalt, erzählt Ettore, dass er seit vielen Jahren mit einem Pfarrer, Georg, in Deutschland befreundet ist. Georg führt eine Pfarrei bei Freiburg und Ettore besucht ihn dort ein bis zweimal im Jahr.
Fasziniert hört Harald seinem neuen Freund zu. Beeindruckend, dass Ettore bei seinen Besuchen in Freiburg die deutsche Sprache fast nebenbei gelernt hat.
Danach beschreibt Harald seine Heimatstadt Heidelberg, die historische Altstadt mit dem berühmten Schloss.
Andächtig hört Ettore zu.
Die fast kindliche Neugier und Reiselust seines neuen Freundes berührt Harald und spontan lädt er Ettore nach Heidelberg ein. Während der Renovierung haben Sigrid und er ein hübsches Gästezimmer eingerichtet, denn mittlerweile sind ihre Kinder ausgezogen und freuen sich über ein komfortables Gästezimmer. Ettores Besuch stellt Haralds Meinung nach eine schöne Gelegenheit dar, das Gästezimmer einzuweihen. Was spricht also gegen eine Einladung?
Ettores Gesicht strahlt vor aufrichtiger Freude, als Harald ihn einlädt. Ein selten emotionaler Tag in Haralds Leben und schnell tauschen die beiden Postadressen, Telefon-Nummern und E-Mailadressen aus.
Während des Gesprächs ist Harald ein antikes, mit kleinen Goldblechen beschlagenes, Kästchen aufgefallen. Immer wieder wandert sein Blick zu dem auffälligen Stück. Schließlich fragt er nach der Funktion des kleinen Kastens und Ettore erklärt, dass das Kästchen als „Reliquien-Schwein“ bezeichnet wird.
Für einen Sekundenbruchteil stutzt Ettore und schon dröhnt befreiendes Gelächter durch die Sakristei.
Bei diesem Versprecher erinnert sich Harald an einen wissenschaftlichen Artikel, den er vor einiger Zeit über Sigmund Freuds Werk gelesen hat. Ein Absatz widmet sich ausführlich den Thesen zu Versprechern. Sofort legt er Ettore in groben Zügen Freuds Thesen zu auffälligen Versprechern dar, die sich hauptsächlich auf unterdrückte Konflikte des Sprechers konzentrieren. Beim Lesen kamen ihm Freuds Thesen haarsträubend vor. Er glaubt sich zu erinnern, dass sie im Text als Freudsche Fehler oder Fehlleistungen bezeichnet werden. Schlagartig wechselt die Stimmung seines Gastgebers.
Lange schweigt Ettore betroffen, tiefe Stille herrscht in der Sakristei.
Harald weiß absolut nicht, wie er sich verhalten soll. Hat er einen Fehler begangen? Darf er den Namen Sigmund Freud einem Priester gegenüber nicht nennen, vielleicht wegen der starken Betonung der Sexualität in der Psychoanalyse? Das kann doch heutzutage nicht mehr wahr sein, oder? Bisher zählt kein Geistlicher zu seinem Freundeskreis, also fehlen ihm Erfahrungen und Vergleichsmöglichkeiten und er fühlt sich verunsichert. Soll er die Situation möglichst geschickt überspielen und das Verhalten des neuen Freundes ignorieren? Oder einfach nachfragen? Da fällt ihm ein, dass am Ende des Artikels die Theorie der Freudschen Fehlleistungen in Frage gestellt wird. Sprachwissenschaftler deuten sie mittlerweile als Montagefehler beim Satzbau. Gerade will er Ettore von den neueren Forschungsergebnissen erzählen, als der Priester sein Schweigen bricht.
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