Название: Geschichten aus dem Alltag
Автор: Susanne Wilting
Издательство: Автор
Жанр: Публицистика: прочее
isbn: 9783959632263
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Wie versteinert sitzt Dieter auf seinem Stuhl.
„Ja, und geile Klamotten will ich!“
Das darf doch nicht wahr sein! Was geschieht gerade mit seinem Traum, der heute wahr werden soll? So schnell gibt Dieter nicht auf. „Nein, ich meine natürlich ernsthafte Pläne, Jenny, so für die nächsten zwei, drei Jahre.“ Er gibt sich einen Ruck, seine Gefühle können nicht falsch sein, unmöglich. Jetzt! Entschlossen greift er über den kleinen Tisch nach ihrer Hand. „Was ich eigentlich meine … Möchtest du meine Frau werden?“
Jennys fröhliches Lachen schallt durch das ganze Lokal. „Bist du total verrückt? Deshalb dein bescheuerter Mitgliedsname! Ich wollte nur schick italienisch essen, bevor ich nachher auf die angesagte Schwabinger Single-Party gehe.“
Fassungslos sieht Dieter sie an, er hat das Gefühl, alles in ihm wird ausgelöscht, für immer. In seinem Kopf hämmert es ohne Unterlass: „Mein Traum! Mein Lebenstraum! Mein armer Lebenstraum!“
Jennys schrille Stimme holt ihn wieder unsanft in die Realität: „Dieter? Das hast du doch nicht ernst gemeint, oder? Sag doch was!“ Scharf beobachtet sie Dieter ein paar Sekunden. „Scheiße, Mann! Immer hat Leonie Recht mit ihren blöden Andeutungen! Egal. Ich will jetzt zu der Party!“
Dieter gibt sich einen Ruck, versucht zu lächeln. Irgendwie schafft er es zu funktionieren. „Ja, natürlich, die Single-Party. Ich bezahl' die Rechnung, dann bring ich dich zur S-Bahn.“
Jenny nickt erleichtert. Als sie das Lokal verlassen, macht Dieter einen entspannten Eindruck auf sie. Schweigend gehen die beiden Richtung S-Bahn-Station, Dieter wie ein Schlafwandler, Jenny redet schon wieder in Endlos-Schleife, erzählt von den Party-Gästen, die sie kennt und über ihre bevorzugten Outfits. Die Schweigsamkeit ihres Begleiters fällt ihr nicht auf, denn ausführlich beschreibt sie das vierte Partykleid.
Wie immer ist der Bahnsteig am Samstagabend hoffnungslos überfüllt. Als Jenny auf die Anzeigetafel schaut, die ihren Zug in weniger als einer Minute ankündigt, sagt sie beiläufig:
„Ach übrigens, tolles Essen, danke. Aber viel mehr freu' ich mich jetzt auf die Party!“
Dieter nickt, Jenny blickt ungeduldig in den Tunnel. In dem Moment kommt der Zug aus dem Dunkel geschossen. Kurz entschlossen gibt Dieter ihr einen kräftigen Stoß. Als rosa Knäuel fällt Jenny direkt vor den einfahrenden Zug. Im Tumult der schreienden Menschen und kreischenden Bremsen dreht Dieter sich um. Ruhig verlässt er den S-Bahnhof.
Harald
Verzaubert fotografiert Harald seit einer halben Stunde. Die kleine, nahezu original erhaltene, perfekt restaurierte Krypta, fordert sein ganzes Können als Hobbyfotograf. Nachdem er gestern Abend das Kapitel über den Dom San Pietro im Kunstreiseführer über Venetien überflogen hat, weiß er, dass er in einem einheitlich romanischen Sakralbau steht und die Steinmetz-Arbeiten für diese Region ganz außergewöhnliche Motive zeigen. Wie im Rausch lichtet er eine Bilderserie der Säulenkapitelle ab, die in wilder Reihenfolge Pflanzen, Obst, Dämonen und Tiere mit symbolischer Bedeutung zeigen. Danach setzt er sich für einen Moment auf einen kleinen, wackligen Holzstuhl und genießt die Stille und die Atmosphäre der dämmrigen Unterkirche.
Doch sofort stutzt er, gleichzeitig ärgert er sich auch schon, denn in einer Ecke hat er eine große Kunststoff-Madonna entdeckt, die ein grelles, himmelblaues Gewand trägt und auf einer halbhohen Säule steht. Den Heiligenschein bildet eine Neonröhre, die gelblich, aber viel zu intensiv für die Umgebung leuchtet. Zu Füßen der Madonna brennen auf einem Ständer in mehreren Ebenen viele, kleine Wachslichter. Haralds ästhetisches Empfinden rebelliert bei diesem Anblick und er kommt auf die Idee, in das Münzfach für die Wachslichter einen Notizzettel mit der Aufschrift „Geschmacklosigkeit!“, einzuwerfen. Doch die kitschige Plastikfigur, die einen drastischen Kontrast zur Krypta bildet, scheint bei der Gemeinde ausgesprochen beliebt zu sein. Ganz frische, üppige Blumensträuße schmücken die Figur in lockerem Halbkreis. Ein Heiligenschein aus Blumen, denkt Harald zynisch. Dann beruhigt er sich. Eine alberne Idee, sogar verletzend, einen so abwertenden Zettel einzuwerfen. Jetzt fühlt er sich wirklich urlaubsreif. Ruckartig dreht Harald den Stuhl so, dass er die Madonna aus seinem Blickfeld verbannt. Noch einmal schaut er flüchtig in den schmalen Kunstreiseführer.
Oben im Kirchenschiff liest seine Frau Sigrid eifrig in der großen, detaillierten Ausgabe.
Sigrid sagt immer wieder, dass er die Kirche doch sowieso nur durch den Sucher seiner Spiegelreflexkamera sieht. Gemeinsame Besichtigungen lehnt sie deshalb seit Jahren kategorisch ab, weil Harald sich zu viel Zeit für Einzelheiten nimmt und das verschlimmert nur ihre Nervosität. Der knappe Reiseführer, den er benutzt, beschreibt lediglich einen typisch romanischen Sakralbau, warnt vor dem sehr steilen Anstieg zur Kirche, verliert jedoch kein einziges Wort darüber, dass es sich bei der Krypta um ein wahres kunstgeschichtliches Kleinod handelt, in ganz Italien berühmt, das Highlight ihrer Venetien-Rundreise.
In diesem sakralen Raum fühlt er das erste Mal seit langem so etwas wie ein Glücksgefühl aufblitzen. Es verflüchtigt sich jedoch sofort wieder, als Sigrid im Altarraum hektisch hin und her zu laufen beginnt. Die Absätze ihrer Schuhe klappern hart und nervenaufreibend auf dem antiken Marmor-Fußboden. Geduldig wartet er ab, bis die Geräusche verklingen.
Harald bedauert, dass sich die gemeinsamen Ferientage durch hohe Erwartungen und maßlose Enttäuschungen auszeichnen. Heimlich hat er von einem romantischen Urlaub zur Feier ihrer Silberhochzeit geträumt, zweite Flitterwochen sollten es seiner Meinung nach werden. Eine liebevoll und detailliert geplante Rundreise im Frühling hatte er sich gewünscht, im Mittelpunkt Besichtigungen ausgewählter Kunstdenkmäler, Kirchen und Museen, mit Übernachtungen in romantischen Luxushotels und der Besuch bekannter Edel-Restaurants am Abend, einfach alles perfekt. Naiv hatte er gehofft, mit diesen Mitteln ihre Ehe positiv zu beeinflussen. Doch aus seinem schönen Plan hat sich ein unvorbereiteter, liebloser Kurztrip mit nüchternen, billigen Nachtquartieren und einigen wenigen, eher zufälligen, Besichtigungen entwickelt.
Restaurants wählen sie erst abends auf die Schnelle aus, nach dem Zufallsprinzip. Ein Grauen für Harald.
Die Gründe für diese drastischen Unterschiede liegen zu Hause in Heidelberg. Dort waren in den letzten Wochen detaillierte, liebevolle Reisevorbereitungen, auf die er so großen Wert legt und in die er immer viel Zeit investiert, völlig unmöglich. Renovierungsarbeiten an ihrem Haus zogen sich durch massive Fehler der Handwerker schier endlos in die Länge. Harald war fest davon überzeugt, dass Sigrid die Renovierung nicht in den Winter verschieben wollte. Deshalb fragte er sie gar nicht erst. Und so reisen die beiden während der Hauptsaison. Harald leidet unter hohen Temperaturen und großer Schwüle, nahezu unerträglichem Lärm und überfüllten Hotels, während Sigrid Hitze und Lautstärke völlig gleichgültig gegenüber steht. Für sie zählt nur, dass zu Hause die Arbeiten am Haus zu ihrer vollen Zufriedenheit abgeschlossen sind. Im Spätsommer soll dann nachträglich ihre Silberhochzeit mit einer glänzenden Gartenparty gefeiert werden, mit vielen Gästen, Prosecco in Strömen und angesagtem Fingerfood. Harald empfindet jetzt schon Abscheu, wenn er an diese Feier denkt.
In solchen Augenblicken versteht er das erste Mal in seinem Leben Aussteiger. In Gedanken spielt er verschiedene Möglichkeiten durch, in Venetien zu bleiben. Hin und wieder schaut er sehnsüchtig in die Schaufenster der Immobilienmakler, doch auf Anhieb gefällt ihm kein Angebot. Schade.
Einen Augenblick genießt er noch bewusst die angenehme Kühle der Krypta, dann steigt er langsam die schmale, ausgetretene Wendeltreppe hinauf in die helle Oberkirche.
Hastig betritt Sigrid СКАЧАТЬ