Название: Geschichten aus dem Alltag
Автор: Susanne Wilting
Издательство: Автор
Жанр: Публицистика: прочее
isbn: 9783959632263
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Schockiert über diese Offenheit sehen sich die beiden über das zufällig aufgeschlagene Bild des Heiligen an, der sie sanft und gleichmütig aus dem Mittelalter anlächelt.
Verlegen räuspert sich Harald, gleichzeitig rutscht ihm auch schon die Frage heraus, ob Ettore sich überhaupt noch in der Lage sieht, sein Amt auszuüben.
Ettore zögert und zuckt dann traurig die Schultern. Schließlich schüttelt er den Kopf, langsam steigen ihm Tränen in die Augen. Er winkt ab, als Harald tröstend die Hand nach ihm ausstrecken will.
Um die Situation irgendwie noch zu retten, wiederholt Harald seine Einladung nach Heidelberg und erwähnt, dass auch Sigrid sich über den Besuch freuen wird. Bei diesen Worten beschleicht Harald ein flaues Gefühl. Irgendetwas stimmt nicht, doch er stellt sein Empfinden erst einmal zurück.
Ernst klopft Ettore mit dem Zeigefinger auf den Notizzettel mit der Adresse, nickt nachdrücklich, sprechen kann er im Moment nicht.
Hilflos fühlt Harald sich, unendlich hilflos und gleichzeitig empfindet er tiefes Mitleid mit Ettore. Beide Männer stehen auf und schütteln sich die Hände.
Ettore begleitet Harald zur Tür, schweigend umarmen sie sich. Durch die schwere Holztür schlüpft Harald verstört wieder zurück ins Kirchenschiff.
In einer Kirchenbank sitzt Sigrid. Nach den vielen Ehejahren erkennt Harald ihre Wut allein an ihrer kerzengeraden Körperhaltung. Als er zu ihr tritt, sieht ihr Gesicht versteinert aus. Mit einer knappen Handbewegung fordert sie ihn auf, die Kirche sofort zu verlassen. Aus einem Impuls heraus, will Harald widersprechen, er möchte unbedingt in Ruhe die Apsis besichtigen und fotografieren. Doch dann nickt er kurz und verlässt nach seiner Frau die Kirche. Leise seufzt er, das gibt Ärger. War er doch länger in der Sakristei als er gedacht hat?
Sigrid schreit schon los, bevor sich die Kirchentür hinter ihm geschlossen hat. Auf der Stelle will sie wissen, was er sich dabei gedacht hat, so lange zu verschwinden. Wo, zum Teufel, hat er sich wieder rumgetrieben? Und ihr reicht es jetzt endgültig mit ihm, immer dieses Theater. Das wollte sie ihm übrigens schon zur Silberhochzeit sagen, das wäre der richtige Zeitpunkt gewesen.
Spontan fallen Harald Sigrids unzählige Shopping-Touren ein, bei denen er immer wie ein vergessenes Paket herumsitzt. Er bemüht sich, bei dieser Assoziation nicht zu lachen.
Wortlos dreht Harald um und schlägt den Weg zum Hotel ein. Er will sein Gepäck holen.
Hinter ihm kreischt Sigrid, doch er fühlt völlige Gleichgültigkeit. Kann man Gleichgültigkeit fühlen? Er weiß es nicht. Unterwegs beschäftigt ihn nicht der Bruch mit Sigrid, den erwartet er schon seit einiger Zeit. Harald weiß mit Bestimmtheit, er wird sich von Sigrid trennen. In aller Ruhe lässt er sich noch einmal das Gespräch mit Ettore durch den Kopf gehen. Besonders berührt ihn, dass der Priester keine Perspektive für die eigene Zukunft sieht, weil er seinen Glauben verloren hat. Wie kann er Ettore helfen?
Einen Augenblick bleibt Harald direkt vor seinem Hotel in der prallen Sonne stehen.
Schlagartig versteht er die unvermittelte Vertrautheit zwischen zwei Männern, die sich gerade erst kennenlernen. Gut gelaunt pfeifend betritt er das Hotel.
Haralds ungewisse Zukunft beginnt.
Jasper
Mai 2000
Die Schulklingel läutet zum Ende der zweiten Pause, der Schultag scheint wie jeder andere zu verlaufen.
Jaspers Leiche liegt zerschmettert im Treppenhaus der großen Eingangshalle. Schnell breitet sich eine Blutlache neben seinem Kopf aus und bildet einen starken Kontrast zu dem schwarz-weißen Karomuster der Fliesen.
Flüsternde Mädchen und Jungen drängen sich um den toten Mitschüler, um seine Leiche möglichst genau sehen zu können. Endlich eine richtige Sensation! Eine blutige, sogar eine tödliche Sensation! Genau wie im Film! Sie zeigen keine spontane Trauer, kein Mitleid, überhaupt keine Gefühle, nur ein kleiner Junge beginnt zu weinen. Blitzschnell werden Handys gezückt, um zu fotografieren.
Frau Rieck, eine junge Lehrerin, kommt aus der Pausenaufsicht. Da sie nicht schwindelfrei ist, benutzt sie das zum Hinterausgang gelegene, geschlossene Treppenhaus und braucht immer etwas länger in die Halle.
Als Frau Rieck den toten Jasper entdeckt, schreit sie fassungslos: „Mein Gott! Was ist ihm denn passiert?“ Vor Schreck kann sie sich nur mühsam auf den Beinen halten, ihre Stimme zittert: „Hat schon jemand den Notarzt gerufen? Nein?“ Hektisch blickt sie von einem zum anderen, doch sie bekommt keine Antwort. „Sofort in die Klassenzimmer mit euch! Ich übernehme das und bleibe bei ihm! Los jetzt! Los!“
Murrend und betont langsam zerstreuen sich die Schulkinder.
Nach dem Notruf bricht Frau Rieck schluchzend neben Jaspers Leiche zusammen.
Drei Monate früher
Anne und Thore leben mit ihren drei Kindern in einer alten, verwohnten Reihenhaus-Siedlung. Damit haben sie sich einen langjährigen Traum erfüllt, denn beide Ehepartner sind in vernachlässigten, elenden Komplexen des sozialen Wohnungsbaus am Stadtrand aufgewachsen, in völlig zerrütteten Familienverhältnissen.
Ständig bemühen sie sich, ihren Nachbarn alles recht zu machen und das strengt sie mehr an, als ihnen selbst bewusst wird. Anne und Thore sind unendlich stolz auf ihre Berufsausbildungen und ihre Jobs, denn ihre Eltern hatten keine Ausbildungen und waren häufig, auch für längere Zeit, arbeitslos.
Thore ist als Kfz-Mechatroniker in einer großen Vertragswerkstatt angestellt, Anne arbeitet halbtags als Fachverkäuferin in der Filiale einer großen Bäckerei. Finanziell reicht das gerade aus für eine Familie mit drei Kindern. An oberster Stelle in der Haushaltsführung steht strenge Sparsamkeit, um jedem Kind ein Hobby oder eine Sportart zu ermöglichen.
Die zarte Ina, die jüngste Tochter, weiß ganz genau, dass Thore sie als seine kleine Prinzessin vergöttert. Mit sechs Jahren bezaubert sie alle mit ihrer natürlichen Fröhlichkeit. Ina fällt es unendlich schwer, Entscheidungen zu treffen.
Ihr Bruder Markus schwärmt für den Boxsport und als Achtjähriger ist er schon fest entschlossen, in eine erfolgreiche Karriere als Profiboxer zu starten.
Jasper, der Älteste, benimmt sich ganz anders als seine Geschwister. Er fühlt sich unglücklich und bleibt am liebsten ganz für sich allein in seinem Zimmer und liest traurige Gedichte.
Seine Eltern sind der Meinung, dass er sich für einen Dreizehnjährigen irgendwie komisch verhält.
„Jasper! Frühstück! Wo bleibst du denn? Du kommst wieder zu spät zur Schule!“
Annes Stimme klingt immer schärfer. „Was macht er nur so lange da oben?“
Ungeduldig blickt sie zur Küchentür.
Geübt schiebt Ina Brotstückchen auf ihrem Frühstücksbrett hin und her und tatsächlich wirkt es so, als ob das Brot weniger wird. „Er liest was und weint.“
Anne lacht auf. „Das gibt's doch nicht! Wahrscheinlich liest er jetzt schon vor dem Frühstück todtraurige Gedichte. Er steigert sich da richtig rein. Mensch, Thore! Sag' doch auch mal was.“
Thore blickt überrascht auf. „Ich? Er wird СКАЧАТЬ