Название: Das Rätsel Seele
Автор: Hans Goller
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783766643193
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Unserer Alltagsvorstellung zufolge verlässt die Seele den Menschen im Tod. Zurück bleibt ein „entseelter“ Körper, eine Leiche. Lebendig und beseelt zu sein bedeutet für uns, zu empfinden und zu fühlen. Totes oder Entseeltes halten wir hingegen für empfindungslos. Dies äußert sich auch in unseren Handlungen. Nur unter der Voraussetzung, dass Tote nichts mehr spüren, empfinden und fühlen, können wir sie ruhigen Gewissens begraben oder verbrennen, ohne befürchten zu müssen, dass die Seele mit dem Körper unter der Erde vermodert oder im Krematorium eingeäschert wird. „Die Vorstellung, als lebendige Seele in einem toten Körper eingeschlossen zu sein, mithin in einem Grab, ist unerträglich. Also muss die Seele beim Tod verschwinden – ganz und gar oder wenigstens aus diesem bewegungsunfähigen Körper.“ (Di Franco 2009, 15) Die Ungewissheit über das Fortbestehen der Seele nach dem Tod ist ein zentraler Aspekt unseres Begriffs der Seele. Was mit der Seele nach ihrer Trennung vom Körper geschieht, darüber gibt es verschiedene Ansichten, die stark religiös und kulturell geprägt sind (siehe Kapitel V).
Als charakteristische Merkmale dessen, was wir im Alltag unter „Seele“ verstehen, nennt Di Franco die Innerlichkeit, die Unkörperlichkeit, die Unsterblichkeit und vor allem die Unfassbarkeit der Seele. „Die Seele kann so wenig begriffen werden, wie sie ergriffen werden kann, und die Unbegreiflichkeit gründet gerade in der Ungreifbarkeit: Wir sehen die Seele nicht und können sie weder ertasten, noch schmecken oder hören.“ (Di Franco 2009, 17) Der Psychiater Daniel Hell beschreibt die Unfassbarkeit der Seele so: „Die Seele ist eher von dem her beschreibbar, was sie nicht ist, als von dem her, was sie ist. Sie ist weder ein objektivierbares Ding, noch hat sie einen lokalisierbaren Ort. Sie lässt sich weder in Definitionen einschließen, noch ist sie auf irgendeine Weise von irgendjemandem in Besitz zu nehmen.“ (Hell 2009, 13)
Mit dem Begriff „Seele“ eng verwandt sind die Begriffe „Geist“, „Bewusstsein“, „Ich“ und „Selbst“. Mit diesen Begriffen meinen wir immer etwas unüberwindbar Individuelles. Sie verweisen auf das Innerliche, Unkörperliche und Einmalige des Menschen. Die Gefühle lokalisieren wir in der Seele, die Gedanken hingegen verorten wir im Geist. Als Ersatz für „Geist“ verwenden wir gelegentlich auch den Ausdruck „Kopf“. Beispielsweise wenn wir sagen, dass wir etwas „im Kopf nicht aushalten“ oder dass wir uns über etwas „den Kopf zerbrechen“. „Den Geist lokalisieren wir im Kopf, genauer gesagt im Gehirn, und je mehr wir über die Funktionsweisen des Gehirns erfahren, desto mehr neigen wir dazu, den Geist mit dem Gehirn zu identifizieren. Ob Geist letztlich genau und nur Gehirn ist, spielt in unserem Alltag nur eine unwesentliche Rolle.“ (Di Franco 2009, 21) Mühelos unterscheiden wir zwischen geistigem „Kopfzerbrechen“ und körperlichen „Kopfschmerzen“, zwischen der bloßen Vorstellung eines körperlichen Schmerzes und dem tatsächlich empfundenen Schmerz. Die Gedanken selbst empfinden wir nicht als körperlich. „Den Prozess der geistigen Bewusstwerdung dessen, was in unserer Seele vor sich geht, nennen wir ‚Selbstbetrachtung‘, ‚Innenschau‘ oder ‚Introspektion‘. Daran ist für uns gewöhnlich nichts Wunderliches.“ (Di Franco 2009, 23)
Seelische und körperliche Empfindungen
Im Alltag unterscheiden wir ohne Schwierigkeiten zwischen seelischen und körperlichen Empfindungen. Sträuben sich uns etwa vor Entsetzen die Haare, kommen wir nicht auf die Idee, uns wärmer anzuziehen, sehr wohl aber dann, wenn wir eine Gänsehaut haben, weil wir frieren. Ebenso wenig verwechseln wir den traurigen Kloß im Hals mit erkältungsbedingten Halsschmerzen. Seelisches zeigt sich in körperlichen Regungen. Di Franco fragt: „Wie könnte es überhaupt wahrgenommen und empfunden werden, wenn es sich in keiner Weise äußern würde, und wie anders, wenn nicht körperlich, könnte es sich äußern? Worin genau unterscheiden sich letztlich seelische und körperliche Empfindungen?“ (Di Franco 2009, 28) Unser Sprechen über seelische und körperliche Empfindungen legt einen engen Zusammenhang zwischen beiden nahe. Diesen Zusammenhang bringen wir ausdrücklich zur Sprache, wenn wir sagen, dass unsere seelischen Regungen zu bestimmten körperlichen Zuständen führen, dass sie sich darin zeigen oder ausdrücken. Wir fühlen zum Beispiel Zorn und Wut in uns „hochsteigen“, wir „kochen“ oder „schäumen“ vor Wut, das Gesicht fleckt sich rot, wir sind „wutentbrannt“. „Beispielsweise äußert sich Verliebtheit, ein seelischer Zustand, in beschleunigtem Herzschlag, Zittern, Schlaflosigkeit, Verdauungsstörungen und Ähnlichem, jedenfalls Körperlichem. Ebenso sinnvoll können wir sagen: ‚Ich habe einen Kloß im Hals, weil ich traurig bin‘.“ (Di Franco 2009, 28)
Im Gegensatz zu Temperaturen, Farben und Klängen scheinen Gefühle, wie auch die Seele selbst, völlig innerlich, von außen nicht sichtbar und nur der erlebenden Person selbst zugänglich zu sein. „Kein anderer kann je meine eigenen Gefühle empfinden. Ebenso wenig kann ich die Gefühle eines anderen haben. Ich kann zwar mit jemandem fühlen. Ich kann mit ihm traurig sein oder Mitleid haben und mich für ihn freuen oder seine Freude teilen. Ich empfinde dann aber nicht seine Gefühle, seine Freude oder seine Trauer, sondern nur mein eigenes Mitgefühl.“ (Di Franco 2009, 31) Unsere seelischen Empfindungen können wir natürlich anderen mitteilen, indem wir darüber sprechen. Äußerungen über die eigene seelische Befindlichkeit beginnen wir typischerweise mit den Worten „ich fühle mich“ und ergänzen sie durch Eigenschaftswörter, die diesen Zustand näher charakterisieren. Zum Beispiel: Ich fühle mich beschwingt, gedrückt, leer, voller Angst oder ausgeglichen. In unserem Sprechen über seelische Regungen zeigt sich eine Abgrenzung und gleichzeitige Verknüpfung von Seele und Körper, von seelischen und körperlichen Zuständen. Gefühle äußern sich körperlich: vor Scham erröten, vor Angst zittern, vor Furcht erstarren. Wir äußern unsere Gefühle sprachlich und nichtsprachlich im Tonfall der Stimme, in Gestik und Mimik. Erstaunlicherweise verwenden wir beim Sprechen über Seelisches dieselben oder ähnliche Ausdrücke wie in der Rede über Körperliches. Wenn wir unser Inneres als hart oder weich, als hell oder dunkel, als leicht oder schwer und als kalt oder warm bezeichnen, dann reden wir über die Seele wie über einen Gegenstand mit handfesten Eigenschaften. Wir bezeichnen uns als gespalten und entzweit, als zerrissen oder hin- und hergerissen, als schwankend oder ausgeglichen, als gequält, gepeinigt und getrieben. Wir fühlen uns abgestumpft oder sind unbelastet. Wir zittern innerlich, wir können beben, bewegt, erregt und erschüttert sein (vgl. Di Franco 2009, 38–39). Über die Seele sprechen wir außerdem wie über einen Raum. Diesen inneren Raum bestimmen wir näher als tief, als leer oder erfüllt oder als ausgebrannt. Die Augen, die wir auch „Fenster zur Seele“ nennen, eröffnen uns einen Blick in das Innere eines Menschen. Über die Seele sprechen wir zudem wie über ein tiefes und weites Gewässer. Wir nennen die Seele unergründlich und abgründig wie einen geheimnisvollen See oder das Meer. Wir sind der Ansicht, dass stille Wasser tief gründen. Der Ausdruck „Seele“ geht höchstwahrscheinlich auf den Ausdruck „See“ zurück. Als Erklärung für diese Wortherkunft wird in der Literatur auf die alte germanische Vorstellung verwiesen, derzufolge die Seelen der Ungeborenen und Toten im Wasser wohnten.
Der Sprachwissenschaftler Peter-Arnold Mumm fragt, was wir in der Alltagssprache mit dem Wort „Seele“ bezeichnen. Eine Analyse der Eintragungen des Wortes „Seele“ im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache zeigt, dass wir mit diesem Wort in erster Linie den Gesamtbereich des Empfindens und Erlebens, vorwiegend der Gefühlsregungen, bezeichnen. Unsere Rede von der Seele meint zudem einen besonderen Intensitätsgrad des Erlebens. Das belegen Redewendungen wie: „Ihrem Gesang fehlt die Seele“; „etwas lastet mir schwer auf der Seele“; „jemanden in tiefster Seele hassen“; „in tiefster Seele ergriffen sein“. „Seele“ bezeichnet hier nicht den Ort, an dem Wahrnehmungen und Empfindungen stattfinden, sondern den Intensitätsgrad des Erlebens. „Mit Seele musizieren heißt, nicht nur schöne Töne zu produzieren, sondern die eigenen Gefühle rückhaltlos hineinzulegen; aus tiefster Seele hassen bezeichnet einen mit СКАЧАТЬ