Über das Seiende und das Wesen. Thomas von Aquin
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      EIN »OPUSCULUM« ALS SCHLÜSSEL

      ZU THOMAS VON AQUIN

      Innerhalb des imposanten Gesamtwerks des Thomas von Aquin ist dieser kleine Traktat leicht zu übersehen – und dennoch ist De ente et essentia wahrscheinlich die meistgelesene Schrift des großen mittelalterlichen Theologen. Und dies zu Recht, bietet sie doch in äußerst prägnanter Form die metaphysischen Grundlagen, das Grundgerüst der aristotelischen Metaphysik, das uns das Werk des Thomas von Aquin allererst erschließt.

      Die zweite denkwürdige Begegnung in Neapel war die mit dem großen antiken Philosophen Aristoteles (im Werk des Thomas stets als »Der Philosoph« tituliert). Erst über den Umweg arabischer Intellektueller wurde dem Abendland das Werk des Aristoteles neu erschlossen. Bislang war wenig mehr als die Logik bekannt gewesen. Insbesondere Averroes (Ibn Rushd, 1126 –1198), der eine Reihe von Kommentaren zu den aristotelischen Schriften verfasst hat (und von Thomas schlicht »Der Kommentator« genannt wird), und Avicenna (Ibn Sina, 980 –1037) sind hier zu nennen. Das rationale Weltbild des Aristoteles wurde für eine »fides quaerens intellectum«, eine intellektuelle Glaubensverantwortung jener Tage, zur eigentlichen Herausforderung.

      Bald schon wurde der junge Thomas von seinem Orden nach Paris geschickt, um hier seine akademische Laufbahn zu beginnen. Den Gepflogenheiten der damaligen Zeit entsprechend begann er zuerst als baccalaureus biblicus – heute würde man sagen: als wissenschaftlicher Assistent, der biblische Vorlesungen zu halten hatte –, um sich dann als baccalaureus sententiarum den damals als Kernstück des theologischen Kanons geltenden »Sentenzen« des Petrus Lombardus zu widmen. Die Krönung seiner wissenschaftlichen Laufbahn war schließlich die Ernennung zum »Magister« (was heute einem ordentlichen Universitätsprofessor entspricht) im Jahr 1257.

      De ente et essentia hat Thomas (etwa im Zeitraum von 1252 bis 1254) als »wissenschaftlicher Assistent« verfasst. Es ist also ein Frühwerk. Adressat dieses kleinen Traktats waren seine Mitbrüder im Orden, denen er die philosophischen Grundlagen seiner Theologie darlegte. Freilich setzt De ente et essentia bereits einiges an Kenntnissen voraus, etwa die aristotelische Logik.

      Die Wirkungsgeschichte des Thomas von Aquin ist atemberaubend. Nachdem er im Mittelalter zunächst im Schatten des dominierenden, vor allem in der franziskanischen Schule gepflegten nominalistischen Denkens stand, erlebte er im 16. Jahrhundert durch die großen Theologen des Jesuitenordens eine erstaunliche Renaissance. Papst Leo XIII. (1878–1903) schließlich erklärte den Thomismus zur verbindlichen philosophischen Grundlage des katholischen Glaubens – was allerdings zur Entwicklung eines allzu engstirnigen Thomismus beitrug. Nicht zuletzt Karl Rahners »Transzendentaltheologie« hat diesen Thomismus überwunden und Thomas mit neuzeitlichen philosophischen Denkansätzen (Kant, Maréchal, Heidegger etc.) versöhnt. Er hat damit genau das für die Gegenwart geleistet, was Thomas für seine eigene Zeit intendiert hatte.

      Ein Zeugnis für eine davon völlig unabhängige Aneignung des thomasischen Denkens im 20. Jahrhundert gibt nicht zuletzt die an der Phänomenologie Edmund Husserls geschulte Philosophin Edith Stein. Der deutsche Text ist hier in ihrer ebenso sprachlich eleganten wie präzisen Übersetzung wiedergegeben. Neben De ente et essentia hat Edith Stein eine bis heute unübertroffene Übersetzung der Quaestiones disputatae de veritate (s. Anm. 12) vorgelegt. Steins Beschäftigung mit diesem kleinen Traktat des Thomas findet ihren Niederschlag im philosophischen Hauptwerk der Märtyrerphilosophin aus dem Karmeliterorden, Endliches und ewiges Sein. Sie legt nicht zuletzt im Anschluss an Thomas‘ kleine Schrift das Sein im Sinne der Analogielehre ihres jesuitischen Mentors Erich Przywara aus. Die Aktualität des Thomas von Aquin für heutiges philosophisches und theologisches Nachdenken könnte kaum besser dokumentiert werden.

      Bruno Kern