Название: Das, was du suchst
Автор: Marjoleine de Vos
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Oktaven
isbn: 9783772544248
isbn:
MARJOLEINE DE VOS
Das, was du suchst
Von der Sehnsucht nach dem Spazierengehen
Mit Fotografien von Anjo de Haan
Aus dem Niederländischen
von Christiane Burkhardt
Inhalt
Dass es nichts zu verstehen gibt
Literaturverzeichnis und Nachweise
Verzeichnis der von Anjo de Haan fotografierten Orte
Platzangst
Hinter den Wiesen Weiden, und da dahinter
Deiche, Meer und Schweden. Wo geht’s hin?
Der Blick verliert sich und den Raum,
und findet weit und breit kein’ Ankunft.
Anders der Erpel, der plötzlich und unbändig
grün ins Sonnenlicht und dir ins Auge schwimmt.
Schau neben deinen Fuß, mahnt er, wo die Ranunkeln
blühn, die Luft im Graben blau gespiegelt.
Fühl die Wärme auf der Nase, sieh das frühe Blatt
vom Flieder. Du hast zu weit geschaut. Das, was du suchst, ist hier.
Lies nur. Es hat uns gegeben.
Es kann lange dauern, bis man weiß, was man sieht. Ja, es kann sogar lange dauern, bis man weiß, dass es überhaupt etwas zu sehen gibt. Man kann jahrelang mit dem Rad durch die Stadt fahren, durch die Veluwe wandern, am Strand entlang, über Wiesen oder die Heide laufen und beim Anblick eines Vogels nicht mehr denken als: Hallo, Vogel. Wenn der Frühling kommt, singen die Vögel lauter und früher. Ein aufmunterndes Geräusch, das man gerne hört.
Die Vögel. Welche? Keine Ahnung.
Wer von nichts weiß, sieht keinen Rotschenkel oder Zaunkönig, keinen Austernfischer oder Kiebitz, sondern bloß «Vögel» oder bestenfalls Möwen, Enten, Spatzen, Schwäne. Wenn einem niemand beigebracht hat, und wenn man selbst nie danach gefragt hat, welche Vögel es gibt, wie sie aussehen und wo sie leben, dann braucht man sie kaum wahrzunehmen.
Mit Landschaften verhält es sich genauso. Es dauert sehr lange, bis man sie richtig wahrnimmt. Menschen, die sich darüber beschweren, wie die Geschichte einer Landschaft ausgelöscht wird, beschweren sich oft bei tauben Ohren oder blinden Augen: Für den Nichteingeweihten, den Nichtkenner, gibt es in einer Landschaft sowieso nur sehr wenig zu sehen.
Natur in den Niederlanden, das bedeutet heute: ein umzäuntes Stück Land mit Weidevieh. Der Naturschutz ist ganz vernarrt in halboffene Landschaften und «Feuchtgebiete», in umgestürzte Bäume und Hirschkadaver, in das Hervorholen von Wasserläufen, in Schutzgebiete und Betretenverboten-Schilder. Zur Erholung in der Natur gibt es Radwege und Seen, in denen man im Sommer planschen kann. Am liebsten mit einem Grillfeuer am Ufer. Das ist Natur, da geht man hin, wenn man ins Freie geht.
Einer Kulturlandschaft kann niemand viel abgewinnen, es sei denn es gäbe etwas Spektakuläres darin zu bestaunen: Burgen, Schlösser, eine romantische Ruine, einen schönen Landsitz, einen Teegarten. Wo nichts dergleichen zu sehen ist, muss man auch nicht hin – was sollte man sich da schon anschauen? Die meisten von uns wissen gar nicht mehr, wie man eine Landschaft liest, und das liegt nicht nur an uns, sondern auch an den Landschaften.
Das Agrarland außerhalb der Städte gibt oft nicht viel her: begradigte Parzellen, riesige Milchviehbetriebe, Maisfelder und Weidelgras. Den Rotschenkeln und Uferschnepfen, die ich einst entzückt bestimmen konnte, begegnet man heute nicht mehr. Die Feldlerche erhebt sich nicht länger jubelnd in die Lüfte. Wilde Wiesen bezaubern eher selten durch ihre bunte Blumenpracht, denn im Weidelgras gedeiht rein gar nichts mehr, an den Kanälen behaupten sich höchstens noch ein paar Brennnesseln und etwas Schilf. Auf keinem Feld steht noch ein Baum, Wallhecken sind so gut wie überall schon lange aus der Landschaft verschwunden.
Gut, da läuft man also, durch genau dieses Agrarland außerhalb der Stadt, irgendwo zwischen Leermens und Eenum in Groningen. Ich betrachte den riesigen Acker, der im Winter eine einzige große Schlammwüste ist, eine Schlammwüste mit ziemlich vielen verlorenen Zwiebeln, die der Bauer nicht retten konnte. In den Furchen steht Wasser, das im fahlen Morgen- oder Nachmittagslicht glitzert – herrlich!, denke ich zufrieden. Gern würde ich auch demjenigen, der diese Weißdornhecke am Wegrand gepflanzt hat, einen Zettel mit Dankesworten hinterlassen – sie sorgt dafür, dass das Kahle weniger kahl wirkt, schützt vor dem doch öfter mal auffrischenden Westwind, und manchmal tschilpen Spatzen darin. Tjielp tjielp tjielp. Den Dichter Jan Hanlo zu zitieren, fällt Spatzen äußerst leicht.
Hinter meinem Schal ist es schön warm, was haben wir für ein Glück, dass es Daunenjacken gibt, wie still es ist, bestimmt bauen sie hier schon bald wieder was Neues hin. Bin gespannt, was.
Manchmal denkt man beim Spazierengehen bloß einfache, einfältige Gedanken, und genau das macht das Spazierengehen so angenehm. Dass ausnahmsweise mal nichts Besonderes los ist, dass nur das da ist, was man sieht. Auch wenn das, was man sieht, häufig schnurgerade ist und verhältnismäßig unbelebt. Die Kanalufer haben fast schon scharfe Kanten, weil jemand den Graben mit einer großen Maschine ausgehoben hat. Die Mäuse lässt das unbeeindruckt, überall in der Uferwand entdecke ich kleine Löcher. So eine Maus erwischt man nicht so schnell.
Und schon eilen die Gedanken wieder fort von diesem Genörgel.
Auch wenn die meisten Menschen nicht als Erstes an Ackerland denken, wenn sie davon reden «raus СКАЧАТЬ