Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen
Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075831040
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Aber wie das nun einmal ist. Dies Verheimlichen vermehrte den Drang der Frau Wende nach dem Trostgange noch mehr, und, als sei der günstige Zufall zu seiner Ausführung sicher ganz nahe, so legte sie die bestimmten Kleider zusammen, buk verhohlen Striezel und Kuchen und wählte in der Vorratskammer Fleisch und Würste aus. Denn sie gedachte aus Schonung, ihre Tröstungen unter der Form des in der Grafschaft üblichen »Wochenbesuches« anzubringen.
Endlich schickte es sich. Am 23. März früh verließ der Freirichter den Hof, um in seiner Eigenschaft als Schulvorsteher in Leschkowitz an einem vom Landratsamt anberaumten Termin in Schulsachen teilzunehmen. Aus den vielfältigen Anordnungen und der unnötig oft mit drohendster Miene wiederholten Versicherung, seine Rückkehr erfolge in zwei, höchstens drei Stunden, entnahm sein Weib, daß er den ganzen Tag ausbleiben werde, und begann schon mit den Vorbereitungen zu dem Ausgang, als seine Droschke kaum knarrend hinter der ersten Bodenfalte verschwunden war. Bald befand sie sich auf dem Wege. Noch lag Schnee, aber er war brüchig und von schmutzigem Weiß, von den südlichen Lehnen zum Teil verschwunden. Das ewige Leben der Natur verwandelte sich wieder einmal und begann sich auf seine herrlichste Form vorzubereiten. Das graue Gewölk des Winters klaffte auseinander. Aus dem blauen Himmel, dem unendlichen Schoße Gottes, sanken die ersten Träume des Frühlings auf die Erde nieder und umgaben alle Dinge und Wesen mit lichtem Schimmer. Die Waldbäume des Hedwigsteines und des Rollenberges sahen scharf und trutzig aus wie Soldaten vor dem Kampf. Die jungen Bäumchen des Feldes standen süß und schamhaft wie Mädchen vor dem Ankleiden. Ihre Zweige glitzten und blinkten im frohen Licht, als ob sie ein goldenes Haar wären.
Von Zeit zu Zeit fuhr ein Wind auf, gleich einem dröhnenden Hornstoß, dem aus fernen Tälern verschwommener Erzklang antwortete, das Waffengeklirr eines heranrückenden Heerbannes. Dann war die Luft von verhaltenen Liedern voll, und um alles rieselten die Schauer naher Verzückung deutlicher. Diese Zeichen der nahen Auferstehung umgaben Frau Wende auf ihrem Gange zu Marie.
Darum auch war der Eindruck, den das unglückliche junge Weib samt ihrer ganzen Umgebung auf sie machte, gleich einer Erschütterung, die den erwogenen Plan zu weiser Einsprache gänzlich über den Haufen warf. Schon das Höfchen war übersät mit Reisigästchen, verstreutem Stroh und Heu, die Hausflur ungefegt. Unter der Stiege zum Boden lagen Wannen und Schäffer, zerdorrt, auseinandergefallen, übereinandergeschichtet wie altes Gerümpel. Die Reifen standen heraus.
Trotz mehrmaligem Klopfen rührte sich nichts in der Stube, die bei ihrem Eintritt ausgestorben schien wie das ganze Haus. Übelriechende, verwohnte Luft füllte sie. Die Wiege in der Mitte war mit einem schmutzigen Laken zugedeckt. Um den Ofen lag ein wirrer Haufen Stroh, das in einzelnen Halmen auch über die ganze Diele verschleppt war.
Die Freirichterin drückte zögernd die Tür hinter sich zu, wartete ein wenig, richtete endlich ihre knochige Gestalt entschlossen auf und wünschte auf gut Glück: »Guten Morgen.«
Niemand rührte sich. Nur hinter der Wiege huschte ein Geräusch taktmäßig hin und her. Nach zwei Schritten tiefer in die Stube bemerkte sie ein mageres, weibliches Wesen, das auf den Knien lag und mit einem trockenen Lappen das Bein der Bank reinigte. Frau Wende glaubte, es sei irgendein Aufwartemädchen, das man dem beklagenswerten Weibe zur Hilfe beigesellt habe.
»Wo is'n de Frau, Mädla?« fragte sie, und als die Person nicht darauf achtete, sondern gleichmäßig mit dem Lappen auf und nieder wischte, rief endlich die Großbäuerin, so laut sie konnte:
»Trotsch du, hörste nich!«
Nach einer Pause stellte die Person ihre Tätigkeit ein, sah forschend den Lappen an, als sei sie nicht ganz sicher, ob er geredet habe, und drehte sich dann um.
Es war Marie. Noch verschrumpfter, noch verwahrloster. Die Kleider trug sie um den Leib gewürgt, wie man eilig ein Bündel schnürt. Nun legte sie den Lappen mit übertriebener Vorsicht nieder und sah angestrengt an Frau Wende herauf und herab.
»Nu, he, Marie! Du bist ja grausam fleißig. Da könnte ees ja 's ganze Häusel forttragen, du rührst dich nich. Komm och jetze her und gönn' dr a wing Ruh'.«
Marie verharrte in der Stellung eines Menschen, der, in undurchdringliche Nacht gehüllt, von Geräuschen umgeben wird, die er nicht verstehen kann. Zuletzt kniff sie gar die Augen ein, als gelte es, mit dem Blick in ganz weite Entfernungen einzudringen.
»Du, Marie, du!« drang die Freirichterin wieder auf sie ein.
Die Angeredete erhob sich rasch, lief aufgeregt in der Stube umher, las eine Handvoll Strohhalme zusammen, blieb dann ratlos stehen und sah umher.
Frau Wende hatte ihr Körbchen auf den Tisch gestellt und sich auf einen Stuhl niedergelassen.
»Da komm och her zu mir«, redete sie der Verirrten gütlich zu, »das Aufräumen kannste ja dann immer noch machen.«
Maries Gesicht verlor den starren Ausdruck und ward weich. Sie näherte sich wie ein folgsames Kind und nahm Frau Wende gegenüber Platz, das Stroh immer krampfhaft in der Hand haltend.
»Siehch och, da hab' ich dr Würste mitgebracht, a Stücke Fleesch, a weng Kuchen und Striezel. Das Gebäcke is mir freilich nich gut geraten. Denn mit den Bierhefen is eben nischte. Iß och jetze tüchtig, du bist gar zu sehr runter.«
Während sie, das sprechend, den Korb in eine herbeigeholte Schüssel leerte, saß Marie still da, in gespanntem Aufhorchen. Die Hand hatte, vom Zwang befreit, das Stroh fallen lassen. Frau Wende nahm ihren Sitz wieder ein und richtete, in Erwartung einer Entgegnung, ihre Augen auf Marie, die den Körper vorneigte und mit stumpfem Blick angestrengt nach der Freirichterin hinsah, als sitze diese nicht klar und deutlich vor ihr, sondern sei von tiefem Dämmern eingehüllt kaum sichtbar.
Frau Wende war von diesem seltsamen Betragen beunruhigt und ergriffen zugleich. Ehe sie aber zu neuen Worten kommen konnte, gab Marie die Bemühungen, durch die Schatten ihres zertrümmerten Lebens zu dringen, auf, erhob sich, wischte den Schweiß von den Fensterscheiben, ließ sich wieder nieder und faltete die Hände im Schoß.
Das Licht fiel glitzernd über den Tisch.
»De – Sonne – scheint – scheen – – sehr scheen«, sagte sie nach langem Hinsehen mühsam, mit einem Klang in der Stimme, wie er unter dem Bogenstrich Ungeübter aus Geigen kommt, die jahrelang unbenützt im Kasten gelegen haben.
Die Freirichterin deutete mit Recht diese Worte als ein Zeichen beginnender Anteilnahme und fragte, um sie zu vertiefen, nach dem Ergehen des Kindes.
Marie lauschte interessiert den Worten ihrer früheren Herrin nach wie dem Laut einer fremden Sprache.
Es zeigte sich auf ihrem blassen, verlöschten Gesicht, in ihren stumpfen Augen kein Verstehen, sondern nach einer Weile kam ein Zug in ihr Antlitz, wie Schlafende lächeln, wenn man sie kitzelt.
Frau Wende wiederholte ihre Frage, rüttelte sie endlich am Arm und wies leidenschaftlich nach der Wiege. Da stand endlich die Arme wie unter der Wirkung eines Stoßes auf, ging zum Lager des Wechselbalges, zog die Decke ab und stand СКАЧАТЬ