Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr
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Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen

Автор: Hermann Stehr

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788075831040

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СКАЧАТЬ Inneres herein. Allein auch an diesem grausen Tor riefen die Gedanken nicht mehr nach ihrer ungetreuen Mutter, die sie in der Not verlassen hatte. Denn sie waren gleich dem Rauch in der Kälte vergangen, und eine Ruhe war an ihre Stelle getreten, die Marie befähigte, alles zu sehen, zu hören, alles wahrzunehmen, ohne nach dem Sinn und Zweck zu fragen.

      Die schwarze Balkendecke hing noch dräuend wie sonst über dem Zimmer; aber das Bauer in ihrer Mitte beherbergte nicht mehr das fröhliche Zwitschern des Stieglitzes.

      »Husch!« machte die Einsame, nachdem sie es lange aufmerksam betrachtet hatte, um den Vogel aufzuscheuchen, der vielleicht auf dem Boden des Käfigs nach verspritzten Körnern suchte.

      »Husch! – Husch! – Husch!« wiederholte sie noch einigemal gleichgültig und betrachtete dabei das Muster ihrer blau gedruckten Hausschürze.

      Als sich nichts rührte, nahm sie das Drahthäuschen herab und fand das Tierchen tot auf dem Boden liegen, das rot geringelte Köpfchen in die aufgeblasenen Federn gedrückt. Man hatte es verhungern lassen. Denn das Unglück nährt sich vom Schweigen.

      »Tot«, sagte Marie langsam, ging und warf den Käfig samt dem Vogel in den Schnee.

      Dann saß sie wieder nieder, und ihre Hände lagen wie abgeschnürt im Schoße. Sie fühlte es wie ein Geborgensein, daß nichts als der stille Atem in ihr aus und ein ging.

      Das Kind erwachte. Sie wärmte Milch, schmeckte sie ab, gab ihm zu trinken, wiegte es auf den Armen, summte immer den gleichen toten Ton zwischen den Zahnen und hatte weder Abscheu noch Gram.

      Weil der Knabe nicht schlafen wollte, saß sie und schaukelte mit dem Fuße die Wiege. Sie zahlte indessen die Töpfe im Schrank, die Nägel in der Wand, und ehe sie sich erhob, bemerkte sie ein Loch in dem Anwurf.

      »Da is ja der Putz aus'm Wechsel gefallen«, sagte sie und ging an die Arbeit, als könne es nicht anders sein, als daß so eine Entdeckung den Menschen ansporne. Sie fegte die Stube, holte Futter, wusch Geschirr und Wäsche. Alles tat sie genau, still, pünktlich wie ein abgerichtetes Tier. Klappernde Kugeln liefen ihre Tage durch das Haus. Ihre Nächte waren leere Betäubungen.

      Alles Frühere sah sie, alle zerschellte Sehnsucht, alle ringende Süße, die Zertrümmerung ihres ganzen Hoffens. Aber die blutlose Erinnerung weckte nie etwas auf, das sie zornig emporgerissen oder weinend hingeschmiegt hätte. All ihr Leben lag in ihr gleich einem Häufchen dürren Laubes, das der Wind in eine tote Ecke gekehrt hat.

      Nur wenn Kathe und Joseph das Wasser brachten, glommen schwache Wellen letzten Daseinsschmerzes in ihrem Herzen auf.

      Unbezwingliches Weh schnürte ihre Kehle beim Eintritt dieser beiden lieben Menschen, gramvolles Stottern zerbrach die Worte ihres wirren Gespräches, und gingen sie wieder, so kniete das arme Weib auf die Bank, drückte die Stirn an die Scheiben und sah mit der dumpfen Bitterkeit einer Ausgestoßenen auf die Spuren der Füße im Schnee, bis der Wind alles verwischt hatte.

      Dann bückte sie sich wieder nach dem Staub ihres Werkes. Bei jedem Besuch der beiden wiederholte sich dieser peinigende Anfall. Die Not steigerte sich so, daß es sie zuletzt forttrieb. Kathe und Joseph fanden einst das ganze Haus leer. Nur der Wechselbalg schnurrte aus den Kissen. Nach langem Suchen fanden sie Marie im Schuppen hinter den Reisigstoß gekauert. Blaß, verängstigt, am ganzen Leibe bebend, ließ sie sich aufrichten, in die Stube führen, sah lange mit stumpfen Augen umher und duldete mit einem qualvollen Lächeln der Ratlosigkeit alle Fragen nach dem Grunde ihres rätselhaften Betragens. Endlich, als beide, schon entmutigt, sich wieder an ihre Arbeit begeben wollten, sagte sie zaghaft:

      »... das Reisig... das Reisig...«

      Mehr war nicht aus ihr herauszubekommen.

      Bei jeder Wasserfahrt wiederholte sich der gleiche Vorgang; nur wechselte Marie das Versteck. Manchmal, wohl wenn sie von ihrer Ankunft überrascht worden war, begnügte sie sich, unter die Bank oder den Tisch zu kriechen und das Gesicht der Erde zuzukehren. Unter gütlichem Zureden und endlich unter Anwendung von Gewalt mußte sie hervorgezogen werden und verharrte dann, auf das ärgste verschüchtert, blaß und bebend in einer Ecke.

      »Ich kann mr nich helfen. Es überfällt mich halt ne Angst, wenn ihr kommt«, sagte sie einst unaufgefordert und sah in blöder Not an ihnen vorbei.

      So verfiel langsam ihr Leben wie ein unbewohntes Haus; denn ihre Seele, die in den Qualen eines zu schweren Schicksals verschollen war, schweifte an unbekanntem Orte und wollte nimmer zurückkehren.

      Maries Gesicht verlor jeden Ausdruck, ihre Stimme den Klang. Die Haut wie verlegenes Linnen, das Haar, brüchig und glanzlos, hatte nichts als die Fülle von seiner ehemals goldigen Schönheit behalten und glich mehr dem blassen, feinen Gras auf den Waldblößen im Spätherbst. Kaum konnten die Lippen noch die weißen Zähne bedecken; ihr Leib vertrocknete. Welk und zierlich wie ein verkümmertes Mädchen im ersten Jahre der Jungfräulichkeit, bewegte sie sich doch mit der Unsicherheit des hohen Alters. Gleichgültig gegen sich, teilnahmslos gegen ihre Umgebung, ging sie immer in demselben Kleide umher, das ihr viel zu weit geworden war und nun an dem mageren Körper schlotterte.

      Als werde sie von der Außenwelt durch einen wüsten Gürtel von solcher Ausdehnung getrennt, daß alle Kunde aus dem Leben herüber nur als Spiel unverständlicher Geräusche und Farben an ihre Verödung rührte, nicht anders war diese Verschollenheit der Seele bei lebendem Leibe zu erklären.

      Stundenlang konnte sie vor der Wiege des hungernden Knaben stehen, sein mißtöniges Gekreisch hören und mit stierer Gespanntheit hinsehen, um dann plötzlich sich umzukehren und den Ofen voll Holz zu stopfen.

      Sie vergaß die Kühe zu füttern und zu melken, und wenn die Tiere schmerzvoll brüllten und stampften, lief sie ans Fenster und sah gespannt hinaus, als habe ihr jemand gerufen, oder riß die Tür auf, um ein Erwartetes einzulassen. Niemals erfüllte sich der Schatten ihrer Hoffnung, doch nie auch verließ sie die dumpfe Geduld. Nach jeder Enttäuschung ging sie auf die Bank und strickte gleichgültig an einem Strumpfe weiter, der nur eine lange Röhre war, weil es ihr nicht einfiel, zu schränken oder abzunehmen.

      Zum Weihnachtsfeste brachte Kathe einen Baum, Eßvorräte, Äpfel und Nüsse in das einsame Haus am Walde. Nach zwei Tagen stand noch alles unberührt auf dem Tische. Das Bäumchen hatte das Weib zerhackt und im Ofen verbrannt.

      Endlich führte Joseph die vollständig verwahrlosten Kühe in seinen Stall. Als Kathe Miene machte, auch den Wechselbalg aus der Wiege zu nehmen, krallte Marie ihre mageren, blassen Finger in den Arm des Mädchens und sah sie mit drohender Wildheit an.

      In der Tiefe ihres Auges allein glomm ein letzter Schimmer von Beseeltheit, ein schwaches Leuchten furchtsamer Erwartung. Das auch vielleicht bestimmte Kathe, das Kind wieder in die Kissen zurückzulegen und einen letzten Versuch zur Rettung ihrer unglücklichen Schwägerin zu machen. Sie ging zu Frau Wende, erzählte ihr alles und bat sie, Marie doch einmal zu besuchen. Ihr, von der die Beklagenswerte »immer große Stücke gehalten habe«, werde es vielleicht am ehesten gelingen, den stummen Wahn zu zerstreuen, der über ihr lastete.

      Die Freirichterin sagte nicht ja noch nein und begleitete Kathe hinaus. Unterwegs begegneten die beiden Wende, der, vor sich hingrübelnd, vorüberschreiten wollte, bei dem Klange von Kathes Stimme auffuhr und sein Weib zornig ansah.

      »De Exner Kathe hat wegen kleen Schweinla zugefragt«, sagte Frau Wende eilig zu ihrem verdrossenen Manne, »aber ich hab'r gesagt, daß mr mit den Sauen das Jahr gar kee Glück haben.«

      Wende schüttelte zustimmend den Kopf, murmelte etwas in seinen braunen Bart und ging weiter.

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