Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen
Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075831040
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Sie sind mir geblieben in all den Jahren bis heutigen Tages. Wie oft leuchteten sie in unruhvoller, schlafloser Nacht vor mir auf und geben mir auf geheimnisvolle Weise ein kindliches Vertrauen in diesem zerstückten Leben.
Die Augen, die Augen... ich glaube, es wird nichts nützen.« –
Faber sah starr auf die Tür, als ob wer dastände, ihn bannend, von ihm gebannt.
»Aber sie hat doch braune Augen«, sagte ich.
Doch er hörte mich nicht in seiner Selbstversunkenheit, sondern fuhr fort: »Irgendwo, irgendwann ist mir etwas Notwendiges aus der Hand geglitten, und nun zeugt alles in mich hinein, wahllos und geil, und mein Glaube ist ohne Unterscheiden. Was irgend Klang, Farbe oder Rhythmus meiner Vergangenheit weckt, wirkt in mir, wirkt mich.«
»Ich verstehe dich nicht«, sprach ich dürr.
»Die tiefsten Worte sind auch nicht zu verstehen, sie sind nur zu glauben wie die Musik. Wir werden gespielt, es spielt aus uns, Kastner! Siehst du, ich wollte etwas anderes aus meiner Kindheit holen, einen silbernen, frohen Ton. Statt dessen weben diese weißen Mondschleier um den Bäumen, aus fast versunkenen Zeiten herstammend, das Huschen einer Seele um mich, von der ich nichts wollte und will, und doch lebt sie von mir wie der Atem meines Mundes. Allein ihre vollkommene Abhängigkeit von mir ist die Macht über mich. Spürst du nicht auch diese rätselhafte Verwandtschaft? Als sei die verwehte Seele meiner Schwester ins Leben zurückgekehrt und diene und glänze um mich in der Gestalt dieses zierlichen, stillen Mädchens. Und im tiefsten ist es nicht sie, sondern durch sie eine andere. – Die andere – ja...«
»Das ist wohl Liese, der du die Garnhucke getragen hast«, sagte ich, nicht ohne heimliche Schadenfreude, ihn in seiner Verstiegenheit zu verwunden, und doch auch mit leisem Schmerz.
»Ganz recht, sie ist es. Aber es leben zehn gleiche schwächliche, machtlose, bedürftige Mädchen ihres Alters in Wecknitz. Warum mußte ich mich ihrer gerade annehmen?«
Ich lächelte ein wenig malitiös und antwortete: »Nun, aus dem uralten, neuen Grunde vielleicht.«
»Kastner, ich wollte, es wäre Liebe«, sagte er. »Aber sie ist es noch nicht und ist es schon nicht mehr. Ich bin dessen nicht fähig. Und dann soll sich das Schicksal meines Vaters und meiner Mutter nicht wiederholen. Wenn es nicht anders sein darf, gehe sie an mir, aber nicht durch mich zugrunde. – Denn da ist noch etwas Finsteres ..., das stärker sein muß als mein stärkster Wille ...«
»Du wirst fühlen, daß ich dich nicht verstehe«, sagte ich, um ihn dem Bohren zu entreißen.
»Nein, nein! Das führt zu nichts. Es ist besser, ich erzähle weiter.
Eine Reihe der folgenden Jahre, so vielfältige Veränderungen sie auch brachten, ging ohne tiefe Eindrücke an mir vorüber. Was ich aus ihr weiß, klingt von später und von anderen hinein, nicht aus mir. Der französische Krieg warf nur schwache Wellen in unser verlorenes Gebirgsstädtchen Heisterberg. Aber nach dem Siege schwamm ein Zucken des Milliardenrausches auch über unsere Dächer, wirbelte Staub aus alten Winkeln, riß Spinnweben von verträumten Augen und jagte die Leute eiliger durch die Straßen, in vielfältige Unternehmungen, vor denen sie sich sonst gewiß ängstlich gehütet hätten. Die meisten waren wohl der Meinung, ein wenig Wagemut und Skrupellosigkeit reiche hin, ihnen einen Teil der Reichtümer zu verschaffen, die plötzlich auf allen Straßen lagen. Die neue Eisenbahn, die man seit vierzig Jahren projektiert hatte, sollte endlich an der Neiße hin, nach der nahen Grenze geführt werden. Es war klar, daß dann der südöstliche Teil des Städtchens allen Verkehr auf sich ziehen mußte. Die Wiesenstraße lag auf der entgegengesetzten Seite, dort, wo die kleinen, ärmeren Häuser zögernd in stillen Reihen in die wellige Ebene hinausliefen. Die meisten waren unscheinlich, verhutzelt vor Alter und hätten in manchem Dorf durchaus kein Aufsehen erregt. Mein Vater sah ein, daß unter den neuen Verhältnissen diese Gegend noch mehr veröden müsse. Rasch und entschieden wie sein Gang waren auch seine Entschlüsse. Während die meisten sich noch an der wohligen Unruhe der Vermutungen und Befürchtungen gütlich taten, schloß er in einer Nacht den Kauf eines Hauses am Burgberge ab, und bald standen wir mitten im Trubel des Umzuges. Die an sich gewiß löbliche Sorge um das wirtschaftliche Wohl seiner Familie war nicht der einzige, wenigstens nicht der tiefste Grund, warum er der alten Herdstelle untreu wurde. Wenn er auch alles in seiner breiten Brust verschloß, so war ich außer der Mutter wohl der einzige, der etwas von seiner geheimen Absicht erriet. Auch die Großmutterstube erlag der allgemeinen Auflösung, und wir Kinder, deren emsige Helferdienste mehr hinderten als fördersam waren, stürzten uns mit einer wahren Gier in den Raum, der so lange das Ziel unserer Sehnsucht gewesen war. Noch heute, wenn mich die modrige Luft stets verschlossener Zimmer trifft, liegt deutlich diese niedrige, lange Stube vor mir, die von der nahen, weißen Wand des Nachbarhauses ein lebloses Licht erhielt, in dem die wenigen Möbelstücke in fast drohender Stille standen, daß wir Kinder erst über eine rätselhafte Beklemmung zu jenem lauten Draufgängertum gelangten, das von dem hinter uns eintretenden Vater gezügelt werden mußte. Während dann Peter und Resa sich mit dem Korbstuhl am Fenster beluden und eiligst verschwanden, durchstöberten meine Augen den Ort, in dem die Anna zu Tode gekommen war, und weil ich seitdem zum Knaben herangewachsen war, für den das Sterben ohne Blutlachen zu den Unmöglichkeiten gehört, suchte ich nach den Spuren des Kampfes, dem meine Schwester zum Opfer gefallen war, entdeckte aber nichts, als einen großen, dunklen Flecken neben dem Bett.
»Ist das von dem Anna-Blute?« fragte ich meinen Vater. Der ließ seinen Blick von stummem Betrachten langsam auf mich niedersinken und sagte dann mit leichter Betroffenheit: »Was für ein Anna-Blut?«
»Nun, weil doch Großmutter die Schwester totgemacht hat«, antwortete ich.
Da kam, wenn ich mir heute die Szene vergegenwärtige, in seinem Gesicht eine trauervolle Freude auf. und mich voll mit seinen schwarzen Augen umfassend, sagte er:
»Du kleine Seele! Nimm nur und trag' die Fußbank da hinaus. Sie wird uns nicht mehr schaden.«
Dann kehrte er sich von mir ab und trat an das Fenster, neben dem der Korbstuhl gestanden hatte. Als ich wieder zurückkehrte, verdeckte seine hohe, weitausladende Gestalt noch immer das Fenster. Ich wagte mich nicht mehr hinein, um ihn nicht zu stören, sondern ging voll geheimer Freude davon, weil mein ernster Vater so schön auf mich gesehen hatte. Ein Teil der Geräte aus Großmutters Stube kam irgendwohin, ein anderer Teil wurde mit anderem Gerümpel unter die Sparren unseres neuen Hauses gesteckt. So schien die Gewalt der toten Ahne auf immer zerstört, und wir Kinder hatten sie bald vergessen.
Aber mit jedem Umzuge ist eine gewisse Gefährdung unserer lückenlosen Entwicklung verbunden. Denn wir Menschen gleichen in der Seele mehr den Pflanzen, als unser Stolz es sich gestehen will. Die meisten und nicht die schlechtesten beziehen die Sicherheit ihrer Grundsätze aus dem Boden, auf dem sich ihre Tage bewegen, und eine Auflösung СКАЧАТЬ