Название: Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren
Автор: Ricarda Huch
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 4064066388805
isbn:
Ich war über alle Maßen davon ergriffen. Eine heiße Verzweiflung erfaßte mich, daß ich kein Schweizer war und diese Berge und das geliebte grüne Wasser nicht mein nennen konnte. Ich machte nun auch Verse, richtete sie alle an Kordula und gab sie ihr. Ob sie sie nun verstand oder nicht, sah sie doch, daß es Reime waren, und also war ich für sie ein Dichter; denn zwischen guten und schlechten unterscheiden konnte sie noch nicht. Sie sah mich seitdem mit vergrößerter Ehrfurcht an, und besonders gern betrachtete sie meine Augen. Einmal fragte ich, was sie denn da sehe; da antwortete sie mit einem recht lieblichen Bilde: ich sehe deine Gedanken darin herumschwimmen wie schwänzelnde Fischlein in einem See, viele, viele. Ich wurde rot und schämte mich und war doch so stolz und froh wie noch nie.
Zuletzt mußten wir dennoch Abschied voneinander nehmen; das war herzzerbrechend. Das Allerschlimmste aber kam erst, als wir wieder daheim waren. Auszugehen war mir verleidet, und auf dem Wege zur Schule schlug ich trotzig die Augen nieder, um die verhaßten Steinhäuser und den ungeschmückten Horizont nicht sehen zu müssen. Am liebsten saß ich zu Hause und weinte und weinte in meinem untröstlichen Heimweh, und das Seligste, was ich mir auszudenken vermochte, war ein Grab im Wallensee unter den Zacken der Churfirsten. Es war ein großes Elend, und im Grunde hatte ich nicht so unrecht, zu weinen. Wenn man sich von der Natur entfernt, so entfernt man sich vom Guten und Schönen, und vor allem vom Glück. Ich hätte als Hirtenknabe auf einer Alp geboren werden sollen; dann säße ich wohl jetzt noch und jodelte und juchheite, anstatt daß ich hier im Kloster eine schleichende Träne erdrücke, wenn es von den Bergen herüber in mein kahles Gemach tönt.
IV
Ich habe noch nichts von meinem Urgroßvater gesagt. Wenn, wie ich später einsah, unsere ganze Familie nicht in dies Jahrhundert hineinpaßte, so stand mein Urgroßvater, der Großvater meiner Mutter, Ferdinand Olethurm, dem jetztlebenden Geschlecht vollends ganz ferne; wie er ja tatsächlich einer anderen Zeit entsprossen war, da man noch nichts vom neuen Deutschland, Franzosenhaß und sozialer Frage wußte. Sein vaterländisches Gefühl galt einzig seiner hansischen Vaterstadt, die er so im Herzen hegte, als habe er selbst Steine zu ihrem Aufbau herbeigetragen. Obwohl er insofern ein echter Patrizier nach der alten Weise war, so besaß er doch eine so merkwürdige Beweglichkeit des Geistes, daß ihm nichts Neues, mochte es auch noch so weit außerhalb des Gesichtskreises seiner Jugend und seines Mannesalters liegen, unverständlich oder gar gleichgültig war. Was an ihm so äußerst erfrischend und wohltuend für die Jungen war, war dieses, daß er nie ein Ereignis oder eine Idee zuerst vom moralischen Standpunkt aus betrachtete, wie das von einem so alten und ehrwürdigen Manne vielleicht manche erwarten würden. Wenn ihm ein Mensch gefiel, so hätte er sich füglich als ein Strauchdieb und Pirat entpuppen können, mein Urgroßvater hätte schon eine Erklärung dafür gefunden. So groß war seine Fühlung für das Leben des Herzens; denn was in der Welt geschieht, das ist ja doch auch im letzten Grunde erklärlich, ja notwendig. Ferdinand Olethurm hätte einer Erklärung aber auch andernfalls entraten können und hätte frisch zugeliebt und gehaßt, wie es ihm ums Herz war. Dadurch machte er weniger den Eindruck abgeklärter Weisheit, als den unerschöpflicher Jugendkraft und unzerstörbarer Eigenart, und damit beherrschte er die Menschen und bannte sie unter seinen Einfluß.
Mich und Galeiden liebte er über die Maßen, sie wohl noch etwas mehr als mich; einesteils vielleicht schon deshalb, weil sie ein Mädchen war, dann aber auch weil sie bei ihrer großen Weichheit zuweilen eiserne Härte und Festigkeit zeigen konnte, die ihm reizend erscheinen mochte wie eine Mandel im Grießpudding. Überhaupt galt sie für ein merkwürdiges Kind, obschon ich nicht zu sagen wüßte, woran das lag. Ebensowenig wüßte ich zu sagen, warum jedermann in unserm Hause ein so unabweisbares Bedürfnis nach ihrer Gegenwart hatte, da es vorkam, daß man derselben gar nicht gewahr wurde, wenn sie auch eine Stunde lang mit einem im selben Raume war. Meine Eltern konnten sich nicht entschließen, sie, wie man es der Sitte gemäß mit den Töchtern macht, in eine Pension zu geben; anstatt dessen wollten sie, um sich doch etwas an die geläufigen Erziehungsgrundsätze ordentlicher Leute zu halten, eine Französin ins Haus nehmen, von der Galeide die scheu verehrte Sprache der übrigens verhaßten Nachbarn erlernen sollte.
Unter den jungen Mädchen, die auf dieses Gesuch antworteten, war eine mit Namen Lucile Leroy aus der welschen Schweiz. Es war damals mehrere Jahre her, seit ich in der Schweiz gewesen war, aber das Bergland lag noch immer in meiner Erinnerung da schön und fleckenlos im Sonnenstrahlglanze, und es sagte mir ungemein zu, daß ein Mädchen aus jenen wunderbaren Gegenden in unseren traurigen Norden kommen sollte. Meine Eltern hatten stets Lust zu etwas Besonderem, und ein Schweizer war für uns etwas Rares wie dort oben unsere Austern oder eine pommersche Gänsebrust. Galeide sagte nicht viel dazu, obwohl es sie besonders anging; es schien ihr aber mehr leid als lieb zu sein. Es wurde nun ausgemacht, daß die Lucile zu uns kommen sollte; alles ging so einfach von statten, daß man nicht am allerkleinsten Anzeichen bemerken konnte, wie verhängnisvoll diese Wahl für uns werden sollte. Denn zugleich mit den zarten Mädchenfüßen setzte das Schicksal seine eherne Sohle auf unsere glatte Schwelle und trat verhüllt und furchtbar mitten in unser gemächliches Phäakentum. Nicht daß von Lucile selbst irgend ein Unheil ausgegangen wäre, noch daß es sich überhaupt schon in nächster Zeit verkündet hätte. Sie wurde von meinen Eltern mit einer weitherzigen Liebenswürdigkeit empfangen, wie sie wohl nicht vielen Mädchen in solcher Stellung geboten wird. Man bemerkte aber bald an der Weise, wie sie es aufnahm, daß sie das wohl verdiente. Klug und tätig wie sie war, war es ihr ein leichtes, das zu leisten, was von ihr erwartet wurde, und in diesem Bewußtsein betrug sie sich im übrigen wie ein willkommener Gast, machte niemanden durch erzwungene und augenfällige Demut unglücklich, sondern genoß die Freundschaft, die sie empfing, und vergalt sie durch glühende Liebe und Anhänglichkeit. Sie war lebhaft, wußte immer von anregenden Dingen zu sprechen und, was meinen Eltern das Erwünschteste war, sie besprach sie in einer uns fremden Weise und stellte sich meist auf solche Standpunkte, die wir zu übersehen pflegten. Denn sie war in ganz anderen Kreisen und Verhältnissen aufgewachsen. Was wir unbewußt in uns aufgenommen hatten, die vielfachen Bildungseinflüsse einer großen Stadt, danach strebte sie mit Hintansetzung und Unterschätzung der Natur in bewußter, planvoller Weise; einen reichgebildeten Geist achtete sie über alles und suchte sich einen solchen mit achtunggebietendem Eifer und Fleiß anzueignen. Alles was sie bei uns fand, entzückte sie: die weiten hohen Räume unseres Hauses, die darin herrschende Anordnung, die mehr auf das Schöne als auf das Nützliche zielte, und unsere ganze Art zu leben, von der sich ungefähr dasselbe sagen ließ. Aber so sehr dies sie bezauberte, blieb sie doch dabei, mehr als sie wissen mochte, sie selbst und konnte den Zaun, der den wohlgepflegten Blumen-, Obst- und Gemüsegarten ihrer Seele einhegte, nie völlig durchbrechen. Infolgedessen mißbilligte sie manches, was bei uns geschah und äußerte es mit einem Freimut, der meinen Eltern umso besser gefiel, als sie sich nicht danach zu richten brauchten. Sie hörten gern zu, wenn sie in beredter Predigt ihre Grundsätze entfaltete und fingen sogar an zu bedauern, daß Galeiden eine solche Art zu reden und zu denken abgehe. Denn Galeide sprach wenig von Grundsätzen, hatte auch keine, oder wenn sie einmal äußerte, daß sie dies oder das gut oder schlecht fände, dies oder das tun oder nicht tun würde, sagte sie es kurz und derb, oft in unerhörten Ausdrücken, die sich freilich, von ihrer sanften Stimme getragen, weniger anstößig ausnahmen, als wenn ein anderes Mädchen sie gebraucht hätte. Immerhin gedieh mir diese Gewohnheit zum Ärger.
Trotzdem СКАЧАТЬ