Der Vorhang. Beatrix Langner
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Название: Der Vorhang

Автор: Beatrix Langner

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783751800204

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СКАЧАТЬ über den Köpfen lief Fußball, ich fragte nach einem Zimmer, von der Antwort verstand ich nur so viel, dass er nicht mehr vermiete, ich solle im Rheinischen Hof nachfragen, dat kansse ze Fohß jänn, Meechen, de Stroos runner, ich bedankte mich und lief los, eng an den einstöckigen, braun verkachelten Häusern entlang. Mit feinen Nadeln stach der Regen ins Gesicht, eisiger Wind riss an den Ohren. Niemand war mehr unterwegs, wie ausgestorben die Straße, die sich schwarzglänzend unter meinen Schritten hinzog. Hier war es. Kino, Rheinischer Hof und daneben das Kleine Kaufhaus mit dem großen Schaufenster, unser Laden, das einzige Haus in der Straße, das statt der braunen Kacheln am Erdgeschoß einen weißen Anstrich trug. Alles war noch genau so, wie ich es mir in all den Jahren meiner Abwesenheit vorgestellt hatte, sogar der rote Kaugummiautomat hing noch immer neben der Ladentür, wie in Bernstein gegossen, konserviert für die Ewigkeit. Nur die eisernen Säulen, die den schmalen Gehweg markierten, säumten als Grenzpfähle der Gegenwart, wie mir das Gedächtnis zuverlässig meldete, die Straße, hinter der einmal die fremden Städte lagen und die Kindheit endete.

      Das Hotel war verschlossen. Ich drückte die Nachtklingel; nach einigen Minuten öffnete ein Mann. Mürrisch ließ er mich eintreten, nachdem er überall Licht gemacht hatte. Im Schankraum, der zugleich Hotellobby war, roch es nach Bier und kaltem Zigarettenrauch. An einer Wand hingen hinter Glas Fotos von Karnevalsprinzen. Ich legte meinen Pass auf den Tresen, der Mann blätterte ratlos darin herum und verlangte dann, dass ich sofort bezahle; gehorsam zog ich meinen einzigen Fünfzig-D-Mark-Schein hervor und reichte ihn ihm.

      Dat is aber ohne Frühstück, brummte er und steckte den Schein achtlos in seine Hosentasche.

      Kein Problem, sagte ich, nahm meine Tasche und stieg die Treppe hinauf. Hinter mir erlosch das Licht, eine Tür schlug, ein Schlüssel drehte sich im Schloss, ich war allein. Im Zimmer brannte eine nackte Glühbirne an der Decke, im Nachttischschränkchen lag, in schwarzes Kunstleder gebunden, ein katholisches Gebetbuch. Schrank, Bett, Nachttische, zwei Stühle, alles helle Esche oder Birke, frühe sechziger Jahre, Gelsenkirchener Barock, das zwanzigste Jahrhundert war hier vor langer Zeit eingedöst. Ich stellte die Tasche ab, wusch Gesicht und Hände über dem kleinen Waschbecken und zog die Gardine zurück, das Fenster ging auf einen kleinen Garten mit niedrigen Obstbäumen, so viel war in der Dunkelheit zu erkennen. Es war noch zu früh zum Schlafen, ich war hungrig, das Zimmer war ungeheizt, also behielt ich den Mantel an und ging durch das kalte, stille Haus noch einmal hinunter auf die Straße. Es nieselte. An manchen Hauseingängen blieb ich stehen, berührt von dem einen oder anderen heranwehenden Gesicht, einer Straßenflucht, einem Zimmer mit Blick auf ein Vorgärtchen, die wieder verschwanden, ohne deutlich zu werden. Etwas fehlte. Kein inneres Bild wollte sich einstellen, das meine eigene Anwesenheit an diesem Ort, in dieser Straße beglaubigt hätte.

      Ich bog in eine Seitenstraße ein, unversehens wuchs vor mir die Masse der katholischen Kirche in den diesigen Himmel, an deren eine Seite sich der rote Backsteinbau der alten Volksschule lehnte. Durch die Schraffur des Regens, der wieder stärker geworden war, sah ich das Klassenzimmer mit den hohen Fenstern, die Bank ungefähr in der Mitte, meine Bank, das schräge Pult aus speckigem Holz, darauf die Schiefertafel mit dem Schwämmchen, den hölzernen Griffelkasten, ich hörte, wie der Schiebedeckel scharrte, dieses herrliche Geräusch, bevor die Griffelspitze sich auf die Tafel senkt, ich erkannte meinen Griffel, schiefergrau mit einer Binde aus Papier, ich sah die Weidengerte in der Hand des Lehrers, ich hörte das Sirren der Luft, aber ich sah nicht das Kind, nicht die vorgestreckten Handflächen. Es ließ sich nicht blicken. Es musste aber doch hier gewesen sein, vielleicht stand es neben der Tafel, verdeckt von dem Kartenständer mit der großen Landkarte von Deutschland, diesem von blauen Schlangenlinien geäderten, mit Gebirgsrippen durchzogenen buntscheckigen Gebilde, im Norden grün, in der Mitte gelb, grün und braun und nach Süden immer brauner, vielleicht hatte der Lehrer es wieder in die Ecke gestellt, Gesicht zur Wand. Es war nicht da. Meine Erinnerung ließ mich im Stich, sage ich, ausradiert, ausgelöscht das kleine Mädchen, das ich doch zweifellos einmal gewesen sein musste, aus dem Bild getilgt, als hätte es dieses Kind nie gegeben. Meine Kindheit war ein leerer Brunnen.

      Durch die halboffene Tür sickert stoßweises Wimmern. Du rufst nach mir. Von draußen sind spielende Kinder zu hören, ihr Lachen treibt in kleinen Strudeln durch den Abend. Das Rufen wird lauter, energischer. MAMA, immer wieder diese beiden langgezogenen Silben. MA-MA. Ich öffne leise die Tür, setze mich an dein Bett und streichle beruhigend deinen Handrücken. Das musst du dir mal vorstellen, sage ich, die Straße und alles andere, das war alles noch da, Kirche, Schule, Häuser, Leuchtreklamen, Schaufenster, als wären wir nie weggegangen aus diesem Dorf in der Rheinischen Bucht, nur mich hatte man herausgeschnitten. Auf dem Rückweg zitterte in den schmutzigen Pfützen der mattrote Widerschein der Leuchtbuchstaben über der Sparkasse, aber dieses schwache Leuchten genügte, und in derselben Sekunde durchfuhr mich eine heftige Sehnsucht nach einem dieser heißen Sommertage zwischen Zuckerrübenfeldern und Kühltürmen, wenn die weiche Luft wie ein Streicheln den erhitzten Körper umströmte und der herbe Geruch von Heu in der Nase kitzelte und von den Hängen der Rureifel die Wildbäche rauschend hinunterstürzten und die ganze Welt atmete und bebte wie ein großes warmes Tier. Und als ich eine Viertelstunde später, zurück im Rheinischen Hof, unter das klamme Federbett kroch und vor Hunger nicht einschlafen konnte, da stand es auf einmal wieder klar und deutlich vor mir, das lange vergessene Wort, innen an die Augenlider geschrieben, LEBENSGEFAHR. Es hatte also all die Jahre still gewartet, um diesen einen Tag am Fluss für immer im Gedächtnis festzuhalten, eingeschlossen in diesem Wort.

       Das Loch

      Du musst alles vergessen, so war es doch, aber ich bin zurückgekommen, ich sitze am Abhang und starre in das Loch, durch die klare Herbstluft dringt das monotone Brummen starker Motoren, in konzentrischen Halbkreisen arbeitet sich der Bagger durch das Gelände, dreihundertvierzig Meter unter mir öffnet sich der Schlund der Zeit, Menschenzeit, Allerweltzeit, Niemandszeit, ein Meer aus Zeit, von Vergessen durchpflügt. Gierig schlagen die Schaufelzähne in das lockere Sediment, Kratzspuren, Schürfwunden, Zeitfalten hinterlassend, kilometerweit transportieren die Förderbänder den Abraum der Zeit zu den Absetzern, verlorene Zeit, überflüssige Zeit. Mitgerissen von der sanften Krümmung der Erde, klettern die Augen über die Terrassenhänge zu den schneeweißen Wolken über den Kühltürmen von Weisweiler. Wenn ich lange genug auf diese künstlichen Kumuli starre, die träge über den Novemberhimmel treiben, steigt vor mir eine andere, imaginäre, nein, ganz und gar reale Landschaft auf, eine Komplementärwelt, der Himmel ein tiefblaues Meer, die Wolken schwimmende Eisberge, Eisschollen treiben gemächlich zum Horizont, so weit der Blick reicht, die perfekte Täuschung, die Verwandlung der Welt in ihre Gegenwelt, Trompe-l’œil, die Krümmung des Raums zur Linse, durch die aus der ersten eine zweite Welt ersteht. Ich stürze mich in die Tiefe, über mir schlagen die Wellen der Luft zusammen wie das kühlende Dach eines Laubwalds an einem windigen Sommertag, rückwärts durch das Zeitmeer rutsche ich durch Keuper Hauptkies Rotton Bundsandstein Muschelkalk dem Grund entgegen, geschichtete Zeit, zwölf Millionen Jahre wie im Flug. Ein leises Knarren und Ächzen liegt in der Luft, ein Rauschen wie von starken Dieselmotoren, sonst ist es still, so still, dass ich mein Herz klopfen höre. Aber es ist nicht mein Herz, es ist der Flügelschlag der Ewigkeit.

      Falls es ihn wirklich gibt, diesen Ort, sage ich, den die Dichter die Heimat der Seele nennen, diesen Sehnsuchtsort im Rücken der Zukunft, dann habe ich ihn jedenfalls nicht gefunden auf meiner Winterreise, an jenem verregneten Dreikönigstag des Jahres Neunzehnneunundachtzig. Dieses Überall und Nirgends der Morgenlandfahrer, das Einswerden aller Zeiten, für mich ist es verloren. So oft ich zurückdenke an meine Kinderjahre, ist da ein großes Nichts. Es gibt mich nur in der Gegenwartsform, im ewigen Präsens des Hier und Jetzt. Zwischen der Vergangenheit und mir klafft ein Loch, durch das meine Jahre davonschwimmen wie langsame Schiffe, beladen mit namenlosen Gesichtern und Stimmen, mit unbekannten Städten und fremden Zimmern.

      Nebenan ist alles still. Ich stehe am Fenster. Durch das Fenster scheint eine schöne weiße Spätwintersonne, ich könnte spazierengehn. СКАЧАТЬ