Der Vorhang. Beatrix Langner
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Название: Der Vorhang

Автор: Beatrix Langner

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783751800204

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СКАЧАТЬ an die Oberfläche und transportiert sie in die Gegenwart. Erinnerungen können nur formen, was das Gedächtnis herauffördert; was es verbirgt, bleibt für immer verborgen. Erst wenn das Vergangene zu viel von der Gegenwart besetzt, greift das Vergessen ein. Hier verschwindet ein Name, an den du dich beim besten Willen nicht mehr erinnern kannst, dort ein Wort, Gesichter verblassen, dann ganze Sätze, Kapitel, bis die Seiten in deinem Lebensbuch unleserlich geworden sind. Nur manchmal noch steigen sie ungerufen aus dem Nichts herauf, herrenlose Frachtstücke aus einer anderen Zeit, Knopfschachteln und Glasmurmeln, rosa Petticoats, mit Goldflitter bestreute Glanzbildchen und der klebrige Nebel von Haarlack, der sich mit dem stechenden Geruch von Lösungsmitteln im Treppenhaus vermischt hat.

      Du musst alles vergessen, hast du gesagt, sage ich, aber ich konnte nicht. Ich bin zurückgekommen. Wie oft habe ich mir vorgestellt, wie es sein würde zurückzukommen, aus meinem untergehenden Land in die missglückte Heimat, wie oft habe ich mir ausgemalt, wie ich am Bahnhof Zoo in den Interzonenzug nach Köln steigen und, berauscht von Freiheit, die Luft eines anderen Planeten atmen würde, während vor dem Abteilfenster andere Flüsse in einem anderen Land an mir vorbeizögen. Als es dann an einem regnerischen Wintermorgen Anfang Januar endlich so weit war und ich mit rasendem Puls, den blauen Reisepass in der Hand, an den Uniformierten in ihren Glaskäfigen vorbei durch den unterirdischen Gang im Bahnhof Friedrichstraße lief und die Tür am Ende des Gangs aufstieß, das Tor in die Freiheit, da zersprang mein Herz fast vor Angst und mit jedem Schritt wurde mir beklommener zumute, als würde der Tartaros mich im nächsten Moment verschlingen, das Reich der Toten, und der Styx mich in seine Tiefe reißen, der Fluss ohne Wiederkehr, der Grenzfluss zwischen den Lebenden und den Toten.

      Dein Kopf ist auf die Brust gesunken, du schnarchst leise. Der rechte Fuß ist grotesk verrenkt, deine rechte Hand liegt in deinem Schoß wie ein toter Fisch. Auf dem ovalen Couchtisch nadelt das Weihnachtsgesteck. Ich stopfe es in den Mülleimer, wische den Tisch ab und nehme eins deiner selbstgehäkelten Spitzendeckchen aus der Schrankwand. Ich breite es auf der Tischplatte aus und stelle eine leere Vase darauf. Rosige Dämmerung legt sich über die Dächer der gegenüberliegenden Häuser. Im Zimmer ist es fast dunkel, im Fernsehen läuft ein Film über Nashörner.

      Der Zug war halbleer, sage ich, das Abteil eisig kalt. Ein grauer, regnerischer Wintertag zog hinter den Zugfenstern auf, Nebelbänke verdeckten die vorbeifliegenden Dörfer und Städte und Bahnhöfe. Sieben Stunden später ratterte der Zug über die Rheinbrücke, vor dem Milchglashimmel duckte sich der Kölner Hauptbahnhof wie ein stählerner Spinnenleib zu Füßen des Doms, dessen Turmspitzen sich im Dunst verloren. Auf der Treppe zur Plattform drängte sich eine dichte Menschenmenge. Von den neben mir Gehenden hörte ich, dass zur Stunde der neue Erzbischof von Köln mit einem feierlichen Hochamt eingeführt werde. Widerstandslos überließ ich mich dem Sog der Körper, der mich durch das Hauptportal schleuste, das Kirchenschiff war grell ausgeleuchtet, es roch nach Parfüm und Weihrauch, Menschen in Pelzen und gepolsterten Jacken reckten die Hälse, um einen Blick auf den Kardinalbischof zu werfen, dessen zweispitzige Mütze neben dem goldenen Hirtenstab langsam über den Köpfen der Menge durch das Mittelschiff zum Altarraum schwebte. Unter den Klängen der mächtigen Domorgel, die in diesem Moment kantilierend einsetzte, verschmolz die wogende, dampfende Menge zu einem einzigen Körper, von dem ich, die Besucherin von einem andern Stern, ein winziger Teil war. Über mir stieg in erhabener Symmetrie das Deckengewölbe auf, als wollte es meiner unverhofften Anwesenheit an diesem Ort die Feierlichkeit eines Wunders verleihen, und war es denn nicht ein Wunder, dass ich hier war, an diesem nasskalten Dreikönigstag, den es nach allen Regeln der Vernunft für mich gar nicht geben durfte, in dieser Kathedrale, in der ich nicht hätte sein sollen, an dieser Stelle des Universums, genau unter dem Scheitelpunkt der Rippen des linken Seitenschiffs, an der meine Anwesenheit nicht vorgesehen war, in dieser Stadt am Fluss, aus der man mich vor langer Zeit vertrieben hatte.

       Mutterkind

      Ein sonniger Novembermorgen, vor mir stürzt das Land in die Tiefe, die Grube das Loch die Wunde, in meinem Rücken die letzten Häuser von Angelsdorf, im goldenen Licht glänzen Stoppelhalme über der fetten, krumigen Erde. Hier ist das Ufer. Über mir der niedrige Himmel des Nordens. Du musst alles vergessen, so lautete mein Urteil, und ich habe es versucht, ich habe sie mit der Muttermilch aufgesogen, die deutsche Krankheit, ich habe Vergessen getrunken, ich bin das vergessene Kind, der Bastard mit dem Mutternamen, euer gehorsames Hündchen, allmählich verschwimmt hinter dem dunstigen Horizont mein Jahrhundert, das Jahrhundert der Kohle und der Krematorien, Heidewitzka Herr Kapitän, ein Riss geht durch Deutschland, ich hole tief Luft und stürze mich in die Tiefe, der Rheingraben ist eingebrochen, in den Riss strömt von Norden das Meer, die Kölner Bucht läuft voll, zwischen Mönchengladbach und Koblenz breitet sich ein dreißig Kilometer weites Schelfmeer, auf der andern Seite liegt Belgien oder was davon noch übrig ist, das Ruhrgebiet ist abgesoffen, aus der Bottroper Innenstadt ragt ein Steinkorallenriff, Düren ist ein Fischerdorf am Arnoldischen Meer, am Strand von Jülich bauen braunhäutige Kinder Sandburgen, auf der Kölner Domplatte sitzen die Touristen unter Sonnenschirmen und sehen dem Platschen der Wellen zu, das keckernde Lachen einer Entenfamilie zerhackt die sommerliche Stille, unter einem ausgedehnten atlantischen Hochdruckgebiet wiegen sich Kokospalmen im Wind, Kinder lassen Segelschiffchen über die Hohe Straße gleiten, ihre Mütter sitzen auf einer Bank und erzählen den Kleineren Märchen von heiligen Männern, die in grauer Vorzeit hier Kraftwerke gebaut haben, und von den guten Riesen Zweiachtacht und Zweifünfneun, die den schwarzen Strom und den Wohlstand in die Bucht gebracht haben.

      Du hast den schönsten Bauchnabel der Welt, sage ich und ziehe dir vorsichtig das Nachthemd über den Kopf. Eigentlich nur eine zarte Hautfalte, kaum sichtbar, wirklich ein Wunder der Hebammenkunst. Wenn nicht das fingerlange Schlauchstück drinstecken würde, würde man ihn gar nicht bemerken. Durch den Schlauch fließt eine milchkaffeefarbene Flüssigkeit in deinen Magen, die nach Muttermilch riecht und mir jeden Morgen von Neuem Übelkeit erregt.

      Tägliche Verrichtungen. Essen, schlafen, duschen. Wer sagt mir, dass danach irgendwann noch etwas anderes kommt, das besser wäre als das hier. Jeder Tag beginnt und endet auf die gleiche Art, mit dem Blick in deine schönen leeren Augen, grüne Augen mit zarten goldenen Sprenkeln. Mit der Zeit habe ich gelernt, deine Windeln zu wechseln, dich zu waschen, die entzündeten Augen zu reinigen, die PEG zu kontrollieren, dich vom Bett in den Rollstuhl und vom Rollstuhl in den Sessel und vom Sessel wieder ins Bett zu heben, geduldig zu sein, wenn du jammerst, dich zu beruhigen, wenn du um Hilfe schreist und den Grund dafür nicht sagen kannst. Mit dem feuchten Waschlappen streife ich über Gesicht, Hals, Schultern, Arme, fädle die mageren Arme durch das Trägerhemdchen, ziehe dir den Pullover über den Kopf und kämme dein zimtfarbenes Haar, das im Morgenlicht leuchtet wie die Fresien, die es seit ein paar Tagen im Supermarkt gibt.

      Schlaf noch ein bisschen, flüstere ich, ich muss jetzt arbeiten, und drücke dir einen Kuss aufs Haar.

      Schade, flüsterst du und krampfst deine mageren Finger um mein Handgelenk, dass die Knöchel weiß und spitz hervortreten.

      Ist ja gut, sage ich und versuche, dir meinen Arm sanft zu entwinden. Du hältst mich fest, als ich mich aufrichten will. In deiner Hand ist so viel Kraft, dass sie mich niederzwingt, erschrocken knie ich vor dir.

      Ich bin doch nebenan, sage ich, du musst nur rufen.

      Ist gut, flüsterst du und lässt mich frei.

      Der Linienbus fuhr vom Busbahnhof hinter dem Dom, sage ich, ich erwischte gerade noch den letzten. Hinter den beschlagenen Fenstern Schwärze, es regnete noch immer, stumm reihten sich kleine Dörfer mit schmucklosen Häusern in einer endlosen Ebene, kein Baum, kein Strauch, nur vereinzelt leuchteten in der Ferne die roten Rücklichter fahrender Autos. Nach einer Stunde hielt der Bus vor dem Bahnhof von E., die Straße verlor sich im Dunkel der Felder, der Bus wendete und fuhr leer zurück. Ein paar Häuser weiter wurden an der Tür eines Lokals Fremdenzimmer angeboten. Drinnen war es laut und verqualmt, an den СКАЧАТЬ