Название: Elfenzeit 6: Zeiterbe
Автор: Uschi Zietsch
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Elfenzeit
isbn: 9783946773283
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Nimue, Viviane, Herrin vom See, Hüterin der Quelle oder Königin des Wassers, wie sie in den verschiedenen Welten gerne genannt wurde, gehörte zu den Alten und Erhabenen. Eine göttergleiche Fee, so geheimnisvoll und unergründlich, dass selbst die Crain nicht viel über sie wussten. Bis auf jene Geschichten, die sich auch die Menschen in Mythen, Märchen und Liedern erzählten.
Vor langer Zeit hatte Nimue es gewagt, in die Geschicke Britanniens einzugreifen. Als Hüterin des Schwertes Excalibur hatte sie viele der Fäden gezogen, war Mitwisserin und Mitwirkende in jenem Drama gewesen, das König Artus und die Tafelrunde zu einer Legende hatte werden lassen. Unter anderem, weil sie Lancelot in ihrem sagenumwobenen Reich im See aufgezogen hatte.
Seit jenen längst vergangenen Tagen war sie nicht mehr gesehen worden, weder bei den Menschen noch in der Anderswelt. Bis vor kurzem hatte kaum jemand mit Sicherheit sagen können, ob sie überhaupt noch lebte. Bis die Blaue Dame David und Rian die Botschaft ihrer Schwester überbracht hatte.
Dennoch überraschte es David ganz und gar nicht, dass Nimue die Zeit überdauert hatte und weiterhin, wenn auch aus größerer Entfernung, Anteil an den Geschicken der Menschenwelt nahm. Doch warum würde ein so mächtiges Wesen Rian bitten, ihr mit heilkundiger Hand beizustehen? Litt auch sie an dem Verlust der Unsterblichkeit? Oder erhoffte sie sich anderweitig Unterstützung?
Und was hatte der Ruf um Hilfe damit zu tun, dass den Worten der Blauen Dame zufolge jemand versuchte, Merlin zu wecken?
»Hör auf, missmutig vor dich hin zu starren. Das steht dir nicht«, sagte Rian und grinste ihn von der Seite an. Ihre immerwährende Fröhlichkeit war Fluch und Segen zugleich. Wie schmal der Grat dazwischen sein konnte, merkte David besonders, seit er sich mit menschlichen Gefühlen herumschlagen musste. Stück für Stück weckte die wachsende Seele in ihm Gemütszustände, die mal verwirrend, mal ungewohnt berührend und manchmal auch schrecklich nervig waren.
»Ich halte diese Warterei einfach nicht aus«, gab er mit knurrigem Unterton zurück. »Wer weiß, was Nadja gerade alles durchmacht, seit der Getreue sie entführt hat.«
»Du sagst es! Wir wissen es nicht. Weder, wie es ihr geht, noch, wo sie steckt. Also geh nicht immer gleich vom Schlimmsten aus«, erwiderte seine Schwester.
Eine Tonband-Stimme vermeldete, dass der Aer Lingus Flieger EI1011 nun zum Einsteigen bereit sei und das Boarding in wenigen Augenblicken beginnen würde.
»Nadja wird sich wie immer wacker schlagen. Wenn der Getreue sie Bandorchu vor die Füße hätte werfen wollen, hätte er in Newgrange die perfekte Gelegenheit dazu gehabt. Doch er hat es vorgezogen, mit Nadja zu verschwinden. Warum? Das werden wir bald erfahren.«
»Gleich wäre mir lieber«, sagte David.
Sie standen auf, reihten sich in die Warteschlange ein, zeigten ihre Bordkarten und stiegen unbehelligt ins Flugzeug. Mit ihrem natürlichen Charme und etwas Elfenmagie hatte Rian ihnen zwei Plätze in der ersten Klasse besorgt. Vielleicht um wieder gut zu machen, dass David genau genommen ihretwegen zu dieser Mission gezwungen worden war. Als Begleiter und Beschützer seiner Zwillingsschwester. Denn die besonderen Heilkünste, nach denen die Dame vom See verlangte, waren allein Rians Metier. Aber vielleicht wurde Davids Schwert für das benötigt, was angeblich mit Merlin geschah … ob es stimmte, dass jemand versuchte, den Zauberer aus seinem Bannschlaf zu wecken? Wie sollte das möglich sein, da niemand zu wissen schien, wo Merlins Körper lag?
Nach dem Start des Fliegers entspannte sich David ein wenig. Er wusste sein kurzes Schwert wohlversorgt in der Gepäckablage über ihm. Die Menschen konnten es natürlich nicht als solches erkennen – nicht einmal in dem Moment bei der Sicherheitskontrolle, wenn der Scanner es anzeigte. Technik konnte nicht so leicht überlistet werden, Menschenaugen hingegen schon.
Der Blick auf die fedrig-weiße Wolkendecke unter ihm vermittelte ein Gefühl von Geborgenheit und schenkte gleichzeitig einen Hauch von Zuversicht.
Es wurde Zeit, dass David seine Gedanken auf das richtete, was vor ihnen lag. Frankreich. Die Bretagne und ein Wald, der selbst in der Menschenwelt für seine magische Ausstrahlung bekannt war: Brocéliande. Angeblich die letzte Ruhestätte von Merlin, dem größten aller Zauberer.
Ihr erstes Etappenziel war Paimpont. Gleich nebenan lag der See von Comper – Nimues See. Der Beschreibung nach befand er sich im Norden des weitläufigen Waldgebietes, das einstmals bis nach Huelgoat im Westen gereicht hatte.
Durch die Modernisierung und Urbanisierung über die Jahrhunderte hinweg stand nur mehr ein Bruchteil des Baumbestandes aus längst vergangenen Zeiten, doch die Geschichten lockten noch immer keltische Kultisten, Suchende und Touristen an. So stand es zumindest im Reiseführer, den Rian am Flughafen unnötigerweise besorgt hatte.
Ob tatsächlich aus neu erwachter Leselust oder nur um ihn zu ärgern – sie ließ keine Gelegenheit aus, ihm etwas daraus vorzulesen. Sobald sie eine nennenswerte Stelle entdeckt hatte, plapperte sie los. Und wie immer war in ihren Augen fast alles eine Erwähnung wert.
Was würde Nadja bei all dem durch den Kopf gehen?, überlegte David. Wie würde sie die weiteren Schritte planen? Denn darin war sie als Journalistin geradezu brillant. Eine der vielen Eigenschaften von ihr, die David vermisste.
Alles, was mit ihr zu tun hatte, fehlte ihm. Ihre bernsteinfarbenen Augen, wenn sie ihn auf durchdringende Art ansah. Ihr unbändiger Hunger, der Rians Gier nach Süßem ohne Zweifel Konkurrenz machte, und das, bevor Nadja schwanger geworden war.
Ihm fehlte ihre chaotische Ader, wenn es nicht gerade darum ging, ein Geheimnis zu lüften oder einen Bösewicht zu enttarnen. Denn auch wenn sie als Mensch ein bisschen schusselig war, in ihrem Beruf war sie das genaue Gegenteil. Da war sie ein Profi durch und durch. Ein Grund, warum sie sich überhaupt kennengelernt hatten. Weil sie verdammt hartnäckig sein konnte. Ein Wesenszug, der in mancher Hinsicht auch bei seiner Schwester zu finden war.
Obwohl der Flug kaum länger als zwei Stunden dauern würde, begann Rian gelangweilt auf ihrem Sitz vor und zurück zu rutschen und sich mit verdächtig glitzerndem Blick in der Kabine umzusehen.
»Untersteh dich, hier oben in der Luft irgendeinen Schabernack zu treiben«, mahnte David sie. Doch das schien sie wie immer nur noch mehr anzustacheln.
»Ich fürchte, du wirst eine Weile allein Trübsal blasen müssen. Mir steht der Sinn nach ein bisschen Abwechslung und einer anregenden Unterhaltung.« Mit diesen Worten stand Rian auf, quetschte sich mit ihrer modelmäßig schlanken Figur an ihm vorbei und steuerte zielsicher auf einen Kerl zu, der eine Reihe vor ihnen auf der gegenüberliegenden Seite saß.
»Ist hier noch frei?«, hörte David sie säuseln. Den bezirzenden Augenaufschlag dazu konnte er sich, auch ohne ihn zu sehen, ausmalen.
»Désolé. Quoi?«, erwiderte der Mann sichtlich perplex und wischte sich nach einem Blick auf Rians Erscheinung in typischer Hahnenbalzmanier mit der Hand über den nicht vorhandenen Kamm seiner kurzgeschnittenen Businessfrisur.
David stöhnte innerlich auf. Sie hatten wahrlich Besseres zu tun, als jetzt irgendwelche Typen aufzureißen und am Ende vielleicht auch noch in Schwierigkeiten zu geraten, weil ihre Eroberung sich mal wieder an Rian sprichwörtlich festgesogen hatte.
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