Название: Vollstreckt - Johann Reichart, der letzte deutsche Henker
Автор: Will Berthold
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788711727324
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Erst als es durch die Terrorjustiz des Dritten Reiches zu Massenexekutionen kam, machte er keine Einträge mehr. Es gab ja auch nur kurze Urteilsbegründungen und knappe Vollstreckungsbefehle, und die Namen von fünfunddreißig Menschen, die in Drei-Minuten-Abständen in den Tod gehen, kann sich niemand merken.
Was mir Johann Reichhart erzählte, habe ich in druckreife Form gebracht, ohne ihm dabei die Hand zu führen. Ich habe lediglich Umständlichkeiten und Wiederholungen weggelassen und mit seinem Einverständnis die Kriminalfälle anhand seiner Unterlagen rekonstruiert, ergänzt durch seine mündlichen Mitteilungen.
Sie waren eine Fundgrube.
Und eine Schlangengrube.
Stefan Amberg
Der Tod trug mein Gesicht
Es war so weit. Gewehrkolben hämmerten gegen die Holztür. Vor dem Haus stand ein Jeep. Drei, vier Soldaten in olivgrünen Uniformen waren dabei, in mein Deisenhofener Haus einzudringen. Es war im Mai 45; ein Lenz ohne Frühling.
Ich flüchtete in den Keller. Es war natürlich sinnlos, aber wenn der Mensch Angst hat, benimmt er sich wie ein gejagtes Tier. Einer meiner Nachbarn mußte mich denunziert haben.
Eine Minute später griffen sie mich und zerrten mich aus meinem Versteck. Sie hatten die Waffe im Anschlag und aufgedunsene, rote Gesichter.
»Bloody, dirty bastard!« schrie mir einer zu.
»Murderer!« brüllte ein zweiter.
Sie rissen mich derb am Arm, stießen mich vorwärts. Die Angst, die ich spürte, machte mich stumpf gegen den Schmerz. Ich roch den Fusel, den sie getrunken hatten. Einen Moment lang fürchtete ich, daß sie mich auf meinem eigenen Grundstück formlos umlegen würden. Einer machte eine Geste mit der flachen Hand an seinem Hals, und das sollte wohl bedeuten, daß sie mich hängen wollten.
Sie schleppten mich zu ihrem Jeep; einer setzte sich links, ein zweiter rechts. Aus der Entfernung sahen ein paar Zivilisten zu. Der Fahrer jagte los, mit Vollgas. Eine Zeitlang fuhren sie wie unschlüssig hin und her, rasten über Münchens zerstörte Straßen. Dann hielten sie vor dem Hachinger Friedhof.
»Go on, son of a bitch!« sagte der Sergeant neben dem Fahrer.
Sie trieben mich vorwärts, dabei ging ich freiwillig, mit einem pelzigen Gefühl in den Beinen. Als sie mich gegen einen Grabstein stellten, wußte ich, daß sie mich nicht hängen, sondern erschießen wollten.
Sie ließen sich Zeit. Sie waren ja Amateure. Sie fummelten mit der geladenen, entsicherten Waffe vor meinen Augen. Dann verbesserte der Sergeant meine Position wie ein Photograph, der das offizielle Hochzeitsbild macht. Sie schoben mich nach links, dann nach rechts. Einer fesselte meine Hände mit einem Kälberstrick. Sie lachten, redeten durcheinander. Einer spuckte, verfehlte aber mein Gesicht.
Ich lehnte mich gegen den Grabstein, starrte in die Gewehrmündungen. Gleich würde alles vorbei sein. Und das war gut so.
Aber es kam anders.
Plötzlich trat ein US-Offizier dazwischen und beendete die Szene. Er brüllte den Soldaten etwas zu. Sie nahmen auf einmal Haltung an. Er gab ihnen Befehle, die ich nicht verstand. Aber später sagte einer der GIs in seinem radebrechenden Deutsch: »Kaltgemacht wirst du doch, du Schwein.«
Sie lieferten mich in einer Arrestzelle der Polizei ab. Dann kam ich in ein Untersuchungsgefängnis. Jetzt begann die Irrfahrt quer durch die Barackenlager. Manchmal war ich mit fünfzehn anderen in einer Zelle, mitunter auch allein. Meistens war die Luft stickig und das Essen knapp. Aber wo ich auch war, stets war der Himmel für mich so groß wie das Fenster hinter den Gitterstäben.
Ab und zu erhielt ich eine Zeitung. Mitunter sagte mir einer der Mitgefangenen, was die Nazis alles verbrochen hatten. Allmählich begriff ich, wie sehr der Staat, dem ich blind ergeben gedient hatte, mich ausgenutzt hatte, ausgenutzt und mißbraucht.
Es brachte mich um den Schlaf. Der Morgen quälte mich, und die Nacht fürchtete ich. Niemand half mir. Meine Mitgefangenen waren Hoheitsträger der Partei, Richter, Staatsanwälte – die Größen von gestern. Einige wurden später hingerichtet; andere rückten schon sehr bald wieder in die höchsten Stellungen ein. Aber keiner, ob er zur Gruppe eins gehörte oder zu den Glücklicheren, wechselte ein Wort mit mir, wollte neben mir schlafen oder seine Zukunfssorgen mit mir teilen.
Ich war der Einsamste im Lager, und doch selten allein, denn nun fingen sie an, mich zu besuchen, in großer Schar, die Männer und Frauen, die ich hingerichtet hatte. Mitten in der Nacht starrten mich 3165 Gesichter an, so wie damals, als ich der letzte Mensch gewesen war, den sie in ihrem Leben sahen.
Ihr Tod trug mein Gesicht.
Ich hatte einen schrecklichen Beruf gehabt. Ich war Scharfrichter gewesen – ich möchte es nie wieder werden.
Damals begann es, aber der Spuk wurde nicht ferner, als sich die Zeit normalisierte, und oft verwünschte ich die betrunkenen GIs, die im Hachinger Friedhof so lange herumgemacht hatten.
Wenn die Nacht in den Tag übergeht, ist es soweit. Dann kommt der stumme Zug. Die Frauen. Die Männer. Die Schuldigen. Die Unschuldigen. Und ihre toten Augen starren mich aus Wachsgesichtern an, wie damals, als ich den Hebel zog. Einige lächeln. Andere kämpfen verzweifelt gegen das Ende. Die meisten beten. Doch mit dem Amen fällt das Beil. Und während ich die Lippen aufeinanderpresse, höre ich meine Stimme durch das Grauen geistern: »Das Urteil ist vollstreckt.«
Ich habe es öfter als dreitausendmal sagen müssen. Auf Befehl des Staates, der so großzügig mit dem Leben umging, führte ich 3165 Menschen in die Todeszelle. Ich arbeitete mit den Augen, mit den Händen, mechanisch. Empfindungen hätten den traurigen, letzten Akt verzögert und die Todesangst eines einsamen Menschen verlängert. Ich verkürzte das Sterben auf vier Sekunden In dreiundzwanzig Dienstjahren als Scharfrichter ist mir nie eine Panne passiert.
Nur in einem einzigen Fall versagte die Exekution:
Bei mir selbst.
Ich sollte schweigen. Ich habe es jahrelang getan. Viele Menschen gingen mir aus dem Weg. Aber die Sensation läuft mir nach. In den Hungerjahren nach dem Krieg wollte Amerika meine Geschichte kaufen. Gegen Care-Pakete.
Ich schwieg.
Dann kam eine englische Agentur und bot mir eine Riesensumme.
Ich schwieg.
Ich hatte die Absicht, immer zu schweigen. Aber zwischen diesem Entschluß und dem heutigen Tag liegen zweitausend Nächte, die mich folterten, marterten, zermürbten … und die mich zwangen, meine Geschichte zu berichten.
Ich weiß nicht, ob es eine Anklage oder Verteidigung sein wird. Ich muß es tun wie unter einem inneren Zwang. Ich will schildern, wie man Scharfrichter wird. Warum. Wie es ist, wenn man Menschen sterben läßt. Und dann das Gewissen aufsteht. Die Angst. Die Furcht. Das Grauen.
Ich habe diese Menschen gesehen. Ich kannte ihre Fälle. Ich hatte fast mit allen Mitleid. Aber ich war überzeugt, daß sie zu Recht sterben mußten.
Bis dann die Hitlerjustiz auf das Recht verzichtete.
Ich weiß, daß hier die Grenzen meines Berichts zu liegen haben. Diese Hunderte, СКАЧАТЬ