Название: Das weibliche Genie. Hannah Arendt
Автор: Julia Kristeva
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 9783863935665
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Hannah Arendt, eine der Protagonistinnen dieses dreiteiligen Buches, setzt sich unbekümmert über das »Genie« hinweg, das ihrer Meinung nach von den Männern der Renaissance erfunden wurde: Unzufrieden darüber, sich mit den Früchten ihrer – wenn auch immer grandioseren – Tätigkeiten gleichgesetzt zu sehen, und Gott immer mehr verlierend, hätten sie dessen Transzendenz auf die Besten unter ihnen verlegt. Als Trost bezeichnet das Göttliche seit dieser Epoche, als »Genie« verkleidet, ein Geheimnis, das den Künstler in jemand Unvergleichlichen verwandelt. Soll man darin den Einbruch des Absoluten in uns, eine Herausforderung der Menschheit, den Ruf nach dem Übermenschen sehen? Oder die Weigerung, sich auf die Ebene von »Produkten« oder des »Scheins« in einer »Konsum«- oder »Show«-Gesellschaft herabziehen zu lassen? Wir sehen vielmehr im »Genie« eine therapeutische Erfindung, die uns davor bewahrt, in einer Welt ohne Jenseits an Gleichheit zu sterben.
Von »Genie« sprechen – ohne den »bösen Geist« zu vergessen, der seine ganze Mühe entfaltete, um selbst Descartes irrezuführen –, ist das noch möglich? Heute scheint mir der Begriff des »Genies« paradoxe Abenteuer, einzelne Erfahrungen und erstaunliche Überschreitungen zu bezeichnen, die trotz allem in unserem zunehmend standardisierten Universum auftauchen. Ihre erschütternde, so schwierige, ja unmögliche Erscheinung eröffnet den Sinn der menschlichen Existenz. Rechtfertigt das Genie den Sinn des Lebens? Nein, antworten die Protagonistinnen dieses Buches, denn das Leben rechtfertigt sich in bescheidenerer Weise, wie wir sehen werden. Das Genie legt dennoch nahe, unsere Existenz sei unendlich durch das Ungewöhnliche erneuerbar: Ich, Sie sind ein Versprechen in actu. Außerdem – und das ist wesentlich – ist das Außergewöhnliche, um das es geht, nicht eine ausgezeichnete Leistung, gewissermaßen das Bestehen der Zulassungsprüfung im harten Wettbewerb jener Elitehochschule der Geschichte. Ebenso wie die griechischen Helden der Antike besitzen meine Genies gewiß außergewöhnliche Fähigkeiten, allerdings haben viele von uns ebenfalls etwas von diesen Begabungen. Außerdem irren sie unaufhörlich und offenbaren ihre Grenzen. Dennoch unterscheidet sie, daß sie der öffentlichen Meinung – also uns – ein Werk hinterlassen haben, das in der Biographie ihrer Erfahrung verwurzelt ist. Das Werk des Genies verwirklicht das Aufblühen eines Subjekts.
Jeder hat ein Leben, und viele unter uns haben mehr oder weniger amüsante Abenteuer, die in die Familienchronik oder manchmal auch in die Lokal- oder gar Fernsehnachrichten eingehen; doch reicht dies nicht für eine denkwürdige Biographie. Nennen wir »Genies« jene, die uns zwingen, ihre Geschichte zu erzählen, weil sie von ihren Erfindungen untrennbar ist, von Neuerungen, die teilhaben an der Entwicklung des Denkens und der Menschen, dem Aufblühen von Fragen, von Entdeckungen und Freuden, die sie geschaffen haben. Ihre Leistung betrifft uns in so intimer Weise, daß wir sie nicht aufnehmen können, ohne sie im Leben ihrer Autoren zu verwurzeln.
Die Wirkung bestimmter Werke reduziert sich nicht auf die Summe ihrer Elemente. Sie hängt vom historischen Einschnitt ab, den sie bewirken, von ihren Auswirkungen und ihren Folgen, kurz, von unserer Aufnahme. Jemand befand sich an einem Schnittpunkt und hat dessen Möglichkeiten herauskristallisiert: Das Genie ist dieses Subjekt. Es ist nicht wichtig, daß es nur geboren wurde, arbeitete und starb. Wir statten es mit einer Biographie aus, um zu ermessen, daß diese den Mehrwert, den Luxus, den Einbruch nicht erklärt. Den Genies und nicht jedwedem räumen wir dies ein, um uns bewußt zu machen: Jenseits der Erfindung des Werks oder der Tat existiert jemand, hat jemand gelebt. Sind wir jemand? Sind Sie jemand? Versuchen Sie, jemand zu sein!
Ein Concerto von Mozart, ein komisches Bild von Chaplin oder die Entdeckung des Radiums durch Marie Curie in ihrem Laboratorium: Das sind ebenso ungewöhnliche wie unvermeidliche, ebenso unvorhergesehene wie unverzichtbare Ereignisse. Seitdem »das« stattfand, kann man sich die Welt nicht mehr ohne »das« vorstellen; es ist, als ob »das« schon immer dagewesen sei. Die Erschütterung, die diese Taten und Werke hervorrufen, ist derart, daß wir versucht sind, sie zu rationalisieren, indem wir das Übermenschliche beschwören, oder sie bändigen wollen, indem wir uns die Geburt dieser Individuen als vom Schicksal oder von der Genetik bestimmt vorstellen. Oder wir banalisieren sie, indem wir mit Buffon erklären, »das Genie bestehe in großer Geduld«, oder romantischer, indem wir mit Valéry ausrufen: »Genie! Oh lange Ungeduld!« Doch während wir uns bemühen, sie mit einem Leben auszustatten, auf das sich ihr »Genie« nicht reduziert, spielen die Genies uns einen zusätzlichen Streich: Sie offenbaren uns nicht weniger genialisch, daß ihr ungewöhnlicher Charakter am Schnittpunkt ihrer Ausnahme und der unvorhersehbaren Meinung der Menschen liegt, die sie aufnimmt und bestätigt. Sie sind hic et nunc Genies für uns; und für die Ewigkeit, sofern auch wir dabei sind, eine Art von Genies, die »unsere« Genies begleitet…
Und die Frauen? Verfügten sie, wie unter anderen La Bruyère schrieb, über »Talent und Genie […] nur für Handarbeiten«? In der Tat behauptete man lange Zeit, ihnen komme allein das Genie der Geduld zu, während der Stil den Männern vorbehalten sei…
Das zwanzigste Jahrhundert hat mit dem Glauben Schluß gemacht, nach dem die Frauen jene Hälfte einer Gattung von Säugetieren sind, die sich den Geburten widmet. Die Entwicklung der Industrie, die auf die weibliche Arbeitskraft angewiesen ist, dann jene der Wissenschaft, die mehr und mehr den Prozeß der Fortpflanzung beherrscht, befreiten schließlich die Frauen aus dem Reproduktionszyklus. Doch obwohl diese Tendenz seit Jahrtausenden zu erkennen ist, sind früher nur soziale Minderheiten oder einige außergewöhnliche Personen in ihren Genuß gekommen. Unser zwanzigstes Jahrhundert hat diese Emanzipation einer Mehrheit zugänglich gemacht, wenigstens in den sogenannten entwickelten Ländern, und alles weist darauf hin, daß sich die Frauen in Asien, Afrika oder Lateinamerika darauf vorbereiten, einen ähnlichen Weg zu gehen. Das nächste Jahrhundert wird weiblich sein, zum Besten oder zum Schlimmsten. Das weibliche Genie, wie es uns hier erscheint, läßt hoffen: Es gibt eine Chance, daß es nicht zum Schlimmsten wird.
Als dritte Etappe im Erwachen der Frauen (nach dem Kampf der Suffragetten Ende des neunzehnten Jahrhunderts, dann dem der Kämpferinnen für Gleichheit mit den Männern auf allen Gebieten – für die Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht zum Manifest wurde) hat die feministische Bewegung seit Mai ’68 mit pathetischer Gewalt diese völlig neue Freiheit und die unvorhersehbaren Differenzen, die sie offenbarte, betont: eine andere Sexualität, eine andere Sprache, eine andere Politik. Doch die Zurückweisung der Tradition ging mit unvermeidlichen Übertreibungen einher, wobei die schlimmste darin bestand, die Mutterschaft als letzten Beweis der Ausbeutung der Frauen durch alle seit Urzeiten möglichen und vorstellbaren Patriarchate zu brandmarken. Die Feministinnen haben die »Gesamtheit der Frauen« – so wie die »libertäre« Bewegung der Proletarier aller Länder oder aller Länder der Dritten Welt – zur emanzipatorischen oder revolutionären Kraft erklärt. Obwohl diese Entgleisungen bei weitem nicht überholt sind, werden sie heute von einem reaktiven Konformismus überlagert, dem es gelingt, den Gedanken einer weiblichen Besonderheit und Freiheit zu diskreditieren – mit Ausnahme der Verführungskraft, die sogleich Bestandteil der Reproduktion und des Konsums wird. Dennoch bestätigen mehrere Ereignisse jenseits der für soziale Tendenzen typischen Pendelbewegung ein Wiederaufleben der weiblichen Emanzipation.
Dazu gehört die herausragende Rolle, die Frauen heute zunehmend im politischen Leben der Demokratien spielen, und man kann wetten – ohne allzu große Gefahr, sich zu irren –, daß sich ihre politische und ökonomische Kompetenz immer mehr entfaltet und zunehmend Anerkennung erfährt, nicht nur bei uns, sondern ebenso in den Entwicklungsländern.
Die von den Fortschritten der Wissenschaft unterstützte und eine Zeitlang von manchen Frauen verunglimpfte Mutterschaft setzt sich erneut als die wesentliche weibliche Berufung durch: erwünscht, angenommen und erfüllt mit den besten Aussichten für Mutter, Vater und Kind. Sind die Mütter von nun an vielleicht der einzige Schutz gegen die Automatisierung der Menschen?
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