Название: Lebendigkeit entfesseln
Автор: Silke Luinstra
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная деловая литература
Серия: Dein Business
isbn: 9783967400380
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Nun ist es natürlich nicht falsch, sich über intelligente Arbeitszeitmodelle Gedanken zu machen und da neue Wege zu erproben. Was mich aber dennoch daran stört? Mir geht es weniger darum, dass solche Ansätze nicht für alle Unternehmen oder Aufgaben anwendbar sind. Es geht nicht um die viel zitierte Pflegekraft, die ihre Arbeit nicht mit nach Hause nehmen kann, oder den Polizisten, der kein Homeoffice machen kann. Das ist mit jedem Konzept so, nichts passt immer. Was mich wirklich stört, ist die Verkürzung von New Work auf »mobil und flexibel«. Da bin ich raus, um den Designer Guido Maria Kretschmer zu zitieren.
Manchmal erzeugen Medikamente erst den Schmerz, den sie zu bekämpfen versuchen.
Ich bin raus, weil wir mit »Zeit und Ort« an Symptomen unserer Arbeitswelt herumdoktern und nicht an dem arbeiten, was diese Arbeitswelt zentral ausmacht. Und das sind eben vielfach noch hierarchische Strukturen, Fremdbestimmung, Beschäftigung statt Arbeit und einseitige Bevorzugung der Shareholder gegenüber anderen Stakeholdern. Nun ist es natürlich manchmal sehr hilfreich, ein Symptom zu kurieren. Das ist bei Kopfschmerzen nicht anders. Kurzfristig hilft die Tablette, doch die Ursache für die Schmerzen verschwindet meistens nicht und kann sich sogar unbemerkt verschlimmern. Und manchmal erzeugen Medikamente erst den Schmerz, den sie zu bekämpfen versuchen.
Ich befürchte, dass eine so verstandene »Neue Arbeit« weder für mehr Kreativität, Produktivität und Innovationen in unseren Unternehmen sorgen noch uns Menschen zufriedener machen wird. Das wurde mir neulich wieder sehr bewusst, als ich bei einem Vortrag eines Kollegen im Publikum saß. Engagiert hatte er über New Work und dabei besonders über flexible Arbeit in Zeit und Raum gesprochen. Applaus, kurzer Dialog mit dem Publikum. Dann die letzte Frage eines Zuhörers: »Aber guter Mann, wird uns dieses New Work glücklicher machen?« Der Redner schwieg lange und sagte dann: »Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht.« Die Stille im Raum nach seiner Antwort war ergreifend und zugleich die wichtigste Botschaft des Vortrags.
Was wollen Sie wirklich, wirklich tun?
Wenn Sie ein bisschen tiefer in das Thema »New Work« eingetaucht sein sollten, haben Sie vermutlich während der letzten zwei Seiten gedacht: »Aber das ist doch viel mehr als flexible Arbeitszeiten und Homeoffice.« Definitiv ist es das – oder sollte es zumindest sein. So zumindest war es auch im ursprünglichen Konzept von Frithjof Bergmann angelegt. Für ihn war und ist Neue Arbeit nicht nur einfach eine bessere, andere, freiere Art zu arbeiten. Bergmanns Buch »Neue Arbeit, Neue Kultur« habe ich vor einigen Jahren an einem einzigen Tag durchgelesen. Es hat mich gefesselt, vor allem wegen des Geistes, in dem es geschrieben ist.
Der inzwischen über 90-jährige austro-amerikanische Philosoph beschreibt darin, wie er mit seinem Team schon Ende der 1970er-Jahre in der Automobilstadt Flint in den USA vor der Frage stand, wie mit den Folgen der zunehmenden Automatisierung in der Automobilindustrie umgegangen werden könnte. Massenentlassungen, so die Befürchtungen, standen unmittelbar bevor. Die Ähnlichkeiten mit der heutigen Diskussion um die Auswirkungen der Digitalisierung sind frappierend. Der durchaus radikale Vorschlag Bergmanns, wie Massenentlassungen zu vermeiden seien, lautete: Die Menschen arbeiten ein halbes Jahr am Fließband und tun ein halbes Jahr etwas anders. Etwas, was sie »wirklich, wirklich tun wollen«. »Wie bitte?«, mögen Sie jetzt denken. »Die Menschen sollten ein halbes Jahr lang auf dem Sofa herumliegen und warten, dass sie wieder arbeiten können?« So haben Bergmann und seine Leute das nicht gemeint. Sie haben mit ihren »Zentren der Neuen Arbeit« Menschen unterstützt, herauszufinden, was es ist, das sie »wirklich, wirklich tun wollen« – und Wege aufgezeigt, damit Teile ihres Lebensunterhalts zu bestreiten. Das, so die Idee, sollten die Menschen in der anderen Hälfte ihrer Zeit tun.
Von diesen Erfahrungen hat Frithjof Bergmann 2017 anlässlich der Veranstaltung »New Work Experience« in Berlin eindrucksvoll berichtet. Menschen seien förmlich zusammengebrochen, weil sie erstmals gefragt wurden, was sie »wirklich, wirklich wollen«. Das hatte nie jemand gefragt – weder Eltern noch Pfarrer oder Lehrer oder sonst irgendjemand. Das scheint heute noch immer keine gängige Frage zu sein, wie auch Kathrins Dialog mit ihrem Mitarbeiter vermuten lässt, von dem ich im letzten Kapitel erzählt habe. Egal, ob in Flint oder in Hamburg, die Menschen hatten immer nur funktioniert, und jetzt sollte es darum gehen, was sie »wirklich, wirklich tun wollen«?
Wie sehr die Frage berührt, war auch an diesem Spätnachmittag im Jahr 2017 in Berlin spürbar. Trotz der vielen Menschen im Saal war nicht ein Mucks zu hören. Ich vermute, es waren nicht wenige im Raum, die sich diese Frage eben so noch nicht oder lange nicht mehr gestellt hatten, geschweige denn gestellt bekommen hatten, und die gerade etwas Ähnliches erlebten wie die Automobilwerker im Flint der späten 1970er-Jahre.
Bergmann ging sogar noch weiter: Er habe immer wieder eine »Armut der Begierde« gespürt, als wenn Menschen verlernt hätten, etwas zu wollen. Das war ihnen, so seine These, durch ihre Erziehung abhandengekommen.
Während ich das schreibe, muss ich wieder an das denken, was meine Tochter gesagt hatte: Sie habe in der Schule verlernt, etwas Besonderes zu sein. Im Saal in Berlin konnten Sie nach dem Satz mit der »Armut der Begierde« Stecknadeln fallen hören. Was die Leute denn nun »wirklich, wirklich wollen«, wurde Frithjof Bergmann gefragt. Seine Antwort war kurz: »To make a difference.« Etwas tun, das einen Unterschied macht – für sich selber und für andere. Von Menschen, die solche Unterschiede machen, wird in den nächsten Kapiteln noch ausführlich die Rede sein.
Doch selbst das wäre Bergmann nicht genug. Ihm geht es außerdem darum, das Lohnarbeitssystem zu überwinden, so wie wir es seit 200 Jahren kennen. Es ist so gebaut, dass Menschen darin verkümmern. »Jobs machen abhängig, Jobs erniedrigen Menschen«, kritisierte Bergmann auf der Veranstaltung. Und doch geht es ihm nicht um die Abschaffung des Kapitalismus, sondern um dessen Weiterentwicklung. Oberflächliche Verbesserungen helfen dabei allerdings nicht, es geht um das System selbst. Das Gelächter war groß, als der Philosoph ganz pragmatisch formulierte, es käme ihm oft so vor, als sei New Work inzwischen für viele etwas, was Arbeit ein bisschen reizvoller macht, quasi Lohnarbeit im Minirock. Er redete uns, seinem Publikum, ins Gewissen, New Work nicht einfach in die Art und Weise einzubauen, wie wir die Dinge schon immer gemacht haben. Es ginge um nicht mehr und nicht weniger als eine andere Art zu leben. »Das wird großartig«, schloss Bergmann seine Ausführungen. Die neue Kultur werde wirklich, wirklich anders sein. Während es in der alten, zurzeit noch vorherrschenden Kultur darum ging, Menschen zu zähmen, würden in der neuen Kultur Menschen vor allem gestärkt werden. »Das ist, was wir brauchen.«
Wissen Sie, was mich an dem Tag in Berlin am meisten ermutigt hat? Dass die Stimmung im Saal war, wie sie war, nämlich emotional und bewegend. Und dass Frithjof Bergmann mit frenetischem Applaus, mit nicht enden wollenden Standing Ovations gefeiert wurde. Er wurde nicht mehr ausgelacht, so wie am Anfang seines Engagements für New Work, oder ignoriert, so wie viele Jahre zwischen den späten 1970er-Jahren und dem Beginn dieses Jahrtausends.
Es war schon spät, als ich nach diesem Vortrag in den ICE von Berlin nach Hamburg stieg. Dennoch war ich hellwach, und Züge sind für mich ohnehin gute »Denkorte«. Ich ließ meine Emotionen und Gedanken, die ich während der Rede von Frithjof Bergmann hatte, noch einmal Revue passieren. Wie schon beim Lesen seines Buches merkte ich, dass viel von dem, was er sagt, sehr an meine Sichtweisen anschließt. Menschen dabei zu unterstützen, herauszufinden, was sie »wirklich, wirklich tun wollen«, war viele Jahre lang auch ein Schwerpunkt meines beruflichen Tuns, und die Frage läuft auch in meinem heutigen beruflichen Wirken immer mit, weil ich sie für sehr zentral halte.
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