Название: Fritz Bauer und das Versagen der Justiz
Автор: Werner Renz
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: eva digital
isbn: 9783863935320
isbn:
Für Bauer war es ein Gebot des sozialen Rechtsstaats, sich um die Resozialisierung der NS-Täter zu bemühen, sie zu Staatsbürgern umzuerziehen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung aus Überzeugung mittragen und im Konsens mit unseren Grundwerten leben.34 Indem sich die Gesellschaft im Wissen um die begangenen Verbrechen um die Besserung der verurteilten NS-Täter bemüht, vergegenwärtigt sie sich ihre eigene Mithaftung an den Untaten, die nicht allein von den zur Verantwortung gezogenen Angeklagten der NS-Prozesse verübt worden waren.
Doch so recht überzeugt von seinem Vorhaben war Bauer wohl nicht immer. In einem Vortrag aus dem Jahr 1968 heißt es mit Blick auf sogenannte Überzeugungstäter: »Ein Lied von der Schwierigkeit der Resozialisierung etwa von Kommunisten oder Nazisten kann singen, wer den Versuch unternahm, mit ihnen zu diskutieren. Strafe und Strafvollzug, die praktisch in diesen Fällen die Aufgabe politischer Bildungsarbeit haben, reichen schwerlich an die emotionalen und rationalen Wurzeln einer politischen Überzeugung.«35
Gegenüber dem israelischen Schriftsteller und Journalisten Amos Elon soll Bauer geäußert haben: »›Der erzieherische Effekt dieser Prozesse – wenn es überhaupt einen gibt – ist minimal.‹«36 In einem privaten Brief aus dem Jahr 1963 ist zu lesen: »Natürlich ist das Resultat der Prozesse mehr als negativ. Ich (und die meisten) haben nie etwas anderes erwartet. Die Naziprozesse unterscheiden sich insoweit in nichts von allen anderen Strafprozessen, alle führen zu nichts oder nicht viel. Es wäre gewiß schon etwas gewonnen, wenn das dumme Publikum aus der Problematik der Naziprozesse auf die Fragwürdigkeit aller Strafprozesse schlösse.«37 Überaus deutlich wird an diesen Äußerungen die häufig bei Bauer zu machende Beobachtung, dass er sich öffentlich meist voller Hoffnung auf einen Wandel zu Wort meldete, ein durchaus prätendierter Optimismus, dass er jedoch insgeheim die Situation viel pessimistischer betrachtete. Der öffentliche und der private Bauer sind mithin zu unterschieden. Bei sich selbst diagnostizierte er eine intellektuelle, um der Sache willen gleichwohl erkennenden Auges praktizierte »Schizophrenie«.38
Ersichtlich war es Ausdruck von Bauers illusionärem »Erziehungsidealismus«39, von verurteilten NS-Verbrechern Ein- und Umkehr zu erwarten. Im Verbrecherstaat meist auf Befehl der kriminellen Regierung zum Mörder geworden, hatten NS-Täter sporadisch ein schlechtes Gewissen, gelegentlich ein Unrechtsbewusstsein. Dennoch waren nahezu alle der Meinung, für ihre staatlich angeordnete Beteiligung an den rechtswidrigen Taten strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden zu können. Moralische Schuld schlossen viele nicht aus, Rechtsfolgen empfanden sie aber als schreiende Ungerechtigkeit. Einsicht in das eigene Tun, Selbstbesinnung und Schuldanerkenntnis war bei ihnen deshalb nicht zu konstatieren.
Mit Gustav Radbruch sprach Bauer vom schlechten Gewissen, »das den in Gesetzgebung, Rechtslehre und Rechtspflege tätigen Juristen«40 peinige. Im Falle der NS-Täter dürfte Bauer bei aller moralischen und rechtlichen Notwendigkeit, die Verbrechen zu ahnden, nicht frei von Gewissenszweifeln gewesen sein. Zum einen wusste er sehr wohl, dass viele Verantwortliche für die Mordtaten nicht mehr belangt werden konnten und als »Mörder unter uns« frohgemut und nicht selten mit guten staatlichen Versorgungsleistungen lebten.41 Zum anderen war ihm klar, dass der Strafvollzug wenig geeignet war, NS-Verbrecher zu »behandeln«, ihnen eine erfolgreiche Menschenrechtserziehung angedeihen zu lassen.42 Zu fragen ist freilich auch, zu welchem Zweck verurteilte NS-Verbrecher noch zu resozialisieren gewesen wären. Wer zu lebenslangem Zuchthaus bestraft worden war, musste mit einigen Jahren Haft bis zu seiner vorzeitigen Entlassung rechnen. »Resozialisierte«, einstmalige NS-Verbrecher im Rentenalter, gewandelt zu braven Demokraten, in der Haft zur Anerkennung universeller Menschenrechte erzogen: Wären sie – nüchtern betrachtet – notwendige Garanten für eine stabile bundesdeutsche Demokratie gewesen?
Bauers Rechtsauffassung
Wie eingangs erwähnt, war Bauer nicht frei von Widersprüchen. Hinsichtlich der NS-Täter vertrat er eine Rechtsauffassung, die mit seiner volkspädagogischen Konzeption der NSG-Verfahren schwer in Einklang zu bringen war. Bauer zufolge war die »Sach- und Rechtslage« in den Prozessen gegen nationalsozialistische Verbrecher »ungewöhnlich einfach«.43 Historische Gutachten steckten den geschichtlichen Rahmen ab, in dem die Angeklagten gehandelt hatten. Das Gesamtgeschehen, die NS-Judenverfolgung und -vernichtung, war durch die Expertisen der Sachverständigen verhandelbarer Prozessstoff. Urkunden – so Bauer in Verkennung der Beweislage zumindest im Fall des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses –, nicht Zeugen, bewiesen Präsenz und Tatbeteiligung der Angeklagten in den Vernichtungszentren.44 Einer weiteren Wahrheitserforschung bedurfte es nach Bauer nicht. Die Angeklagten waren als Angehörige des Tötungspersonals und somit als Mittäter am Massenmord abzuurteilen. Auf der »4. Arbeitstagung der Leiter der Sonderkommissionen zur Bearbeitung von NS-Gewaltverbrechen« führte Hessens oberster Ankläger wenige Wochen vor Beginn der »Strafsache gegen Mulka u.a.« aus: Der Auschwitz-Prozess könne »in drei bis vier Tagen erledigt sein«. Seine die Tagungsteilnehmer gewiss überraschende Ansicht begründete Bauer folgendermaßen: »Es gab die Wannseekonferenz mit dem Beschluss zur Endlösung der Judenfrage.45 Sämtliche Juden in Deutschland sollten vernichtet werden. Dazu gehörte eine gewisse Maschinerie. Alle, die an dieser Vernichtung bzw. bei der Bedienung der Vernichtungsmaschine mehr oder minder beteiligt waren, werden daher angeklagt wegen Mitwirkung an der ›Endlösung der Judenfrage‹.«46
Die Massenvernichtung in Auschwitz war nach Bauer als eine Tat im Rechtssinne, als natürliche Handlungseinheit, zu betrachten. Seine Auffassung lässt sich wie folgt reformulieren: Wer kausal an dem Gesamtverbrechen (Haupttat) im Wissen um den Zweck der Mordeinrichtung beteiligt war, lässt sich ohne weitere Zurechnung von nachgewiesenen individuellen Tatbeiträgen als Mittäter qualifizieren. Oder: Wer in Auschwitz eine Funktionsstellung im Vernichtungsapparat innehatte, wirkte mit an einer Tat, nämlich an der Tötung derjenigen Menschen, die in der Dienstzeit des jeweiligen Mittäters in Auschwitz umgebracht worden waren.47
Die prozessökonomische Auswirkung seiner Rechtsauffassung hat Bauer hervorgehoben. Im Rückblick auf das Auschwitz-Verfahren, das nach Einschätzung vieler Prozessbeteiligter zu lange gedauert hatte, meinte er: »Die Annahme einer natürlichen Handlungseinheit trägt bei den sich in aller Regel über viele Monate, ja Jahre erstreckenden Prozessen zur Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren wesentlich bei.«48 Erstaunen muss Bauers Auffassung, hinsichtlich der subjektiven Tatseite seien bei den NS-Angeklagten keine weiteren Nachforschungen anzustellen. Der Nachweis ihrer funktionellen Mitwirkung an den Massenmorden war ihm Beweis genug für die Feststellung, sie hätten allesamt in Übereinstimmung mit den sogenannten Haupttätern gehandelt.
Bauers Konzept des kurzen Prozesses mit NS-Tätern stand ersichtlich im Gegensatz zu seinen volkspädagogischen Intentionen. Da die Verfahren – wie bereits dargelegt – »Schule«49 und »Unterricht«50 sein sollten und Lehren zu erteilen hatten, war die Zeugenschaft der Überlebenden, war die Stimme der Opfer für die intendierte Öffentlichkeitswirkung, für den erhofften Aufklärungseffekt fundamental. Wie wenig kompatibel Bauers Prozesskonzept mit seinem Willen zur СКАЧАТЬ