Die Todesstrafe I. Jacques Derrida
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Название: Die Todesstrafe I

Автор: Jacques Derrida

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

Серия: Passagen forum

isbn: 9783709250389

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СКАЧАТЬ Blüten erfuhr ich nur in Bruchstücken: auf einem Zeitungsausschnitt, durch eine beiläufige Erwähnung meines Anwalts oder durch die Sträflinge, die davon sprachen, sangen – einen phantastischen Trauergesang (ein De Profundis), wie die Klagelieder, die sie abends anstimmen, oder die Stimme, die durch die Zellen dringt, und verwirrt, verzweifelt, entstellt zu mir gelangt. Am Ende der Phrasen bricht sie, und dieser Sprung macht sie so sanft, als wäre sie von Engelsmusik getragen – doch davor graust mir; denn die Engel grausen mich, ich stelle sie mir so vor: weder Geist noch Materie, weiß, dunstförmig und erschreckend wie der durchsichtige Körper von Gespenstern.

      […]

      Mit Hilfe meiner unbekannten Geliebten werde ich also eine Geschichte schreiben. Die dort an der Wand kleben, sind meine Helden – und ich, der Eingesperrte. Wenn Ihr weiterlest, werden die Personen, auch Divine und Culafroy, aus der Wand auf meine Seiten fallen wie welke Blätter, um meine Erzählung zu düngen. Ihr Tod – muß ich es noch sagen? Sie alle werden den Tod Weidmanns erleiden, der – als er durch das Schwurgericht von seinem erfuhr – sich begnügte, mit rheinländischem Akzent zu murmeln: „Darüber bin ich schon hinaus“ (Weidmann).

      Es ist möglich, daß diese Geschichte nicht immer künstlich erscheint und daß man gegen meinen Willen die Stimme meines Blutes darin erkennt: dann bin ich nachts mit der Stirn gegen eine Tür gestoßen und habe mich von einer furchterregenden Erinnerung befreit, die mich seit Anbeginn der Welt verfolgt. Vergebt mir. Dieses Buch soll nur eine Parzelle meines inneren Lebens sein.

      […]

      Divine starb gestern in einer Lache von so rotem erbrochenem Blut, das sie sterbend – in einer letzten Täuschung – für ein sichtbares Gegenstück zu dem schwarzen Loch hielt, auf das die aufgeschlitzte Geige, in einem Gewirr von Beweisstücken, auf dem Tisch des Untersuchungsrichters mit dramatischer Inbrunst zeigte – so wie ein Jesus auf den vergoldeten Schanker deutet, in dem sein Geheiligtes Herz brennt. Das war die göttliche Seite ihres Todes. Für uns dagegen hatte ihr Tod die Bedeutung eines Mordes – wegen der Blutströme auf Hemd und Laken (die Sonne war in ihrem Bett untergegangen, auf den blutigen Laken, packend, nicht etwa perfide).

      Divine starb als Heilige und ermordet (durch die Schwindsucht).27

      Anschließend den Anfang von Das Wunder der Rose lesen, S. 223-224 [deutsch: a.a.O., S. 5-7].

      Während das Kind, das ich mit fünfzehn Jahren war, sich in seiner Hängematte um einen Freund schlang (wenn die Härten des Lebens uns zwingen, uns eine gegenwärtige Freundin zu suchen, so sind es, glaube ich, die Härten der Zwangsarbeit, die uns zueinanderführen in einer entscheidenden Liebe, ohne die wir nicht leben können: das Unglück selbst ist der Liebestrank), wußte es bereits, daß seine endgültige Gestalt hinter diesen Mauern lag und daß dieser dreißigjährige Häftling die äußerste Verwirklichung seiner selbst war, die letzte Wandlung, die der Tod beenden würde. Schließlich aber erstrahlte Fontevrault in dem blassen und sanften Schein des Lichtes, das – in seinem dunklen Innern, in seinen Kerkerzellen – von Harcamone ausging, dem zum Tode Verurteilten.

      Als ich aus der Santé fortkam, um nach Fontevrault gebracht zu werden, wußte ich schon, daß Harcamone dort seine Hinrichtung erwartete. Bei meiner Ankunft wurde ich also von dem Mysterium eines meiner alten Kameraden von Mettray ergriffen, der es verstanden hatte, unser gemeinsames Abenteuer bis zum Äußersten zu treiben: zum Tode auf dem Schafott, der unser Ruhm ist. Harcamone hatte „Erfolg gehabt“. Und dieser Erfolg war nicht von dieser Welt, wie Geld oder Glück; angesichts dieser Vollendung erwachte in mir Erstaunen und Bewunderung (selbst das Einfachste ist wunderbar), aber auch die Furcht, die den Zeugen einer Zauberei in Verwirrung bringt. Harcamones Verbrechen hätten meiner Seele vielleicht nichts bedeutet, wenn ich ihn nicht näher gekannt hätte; aber die Liebe, die ich für die Schönheit empfinde, hat die Krönung meines Lebens durch einen gewaltsamen oder vielmehr blutigen Tod von Anfang an herbeigesehnt, und mein Streben nach einer Heiligkeit von dumpfem Ansehen, das in den Augen der Menschen nicht heldenhaft sein konnte, ließen mich heimlich die Enthauptung erwählen; sie hat es für sich, verachtet zu werden, den Tod zu verachten, den sie herbeiführt, und die von ihr Belohnten in einem düsteren und sanften Ruhm erstrahlen zu lassen, der wie der Samt der leicht tanzenden Flamme bei großen Begräbnissen ist; und Harcamones Verbrechen und sein Tod zeigten mir, wie auf einem Schaubild, den Vorgang dieses endlich erreichten Ruhmes. Ein solcher Ruhm ist nicht menschlich. Es ist kein Hingerichteter bekannt, dem allein sein Tod den Heiligenschein verliehen hätte, wie man es bei den Heiligen der Kirche und den Ruhmbeladenen dieser Welt sieht; aber dennoch wissen wir, daß die reinsten unter den Menschen, die diesen Tod empfangen haben, in sich selbst und über ihrem abgeschlagenen Haupte eine wunderbare und vertraute Krone fühlen, voller Kleinodien, die der Finsternis des Herzens entrissen sind. Jeder von ihnen hat gewußt, daß in dem gleichen Augenblick, da sein Kopf in den Korb mit Sägemehl fällt und von einem Gehilfen, dessen Rolle mir recht eigenartig erscheint, bei den Ohren gefaßt wird, daß in dem gleichen Augenblick sein Herz von schamhaft bedeckten Händen aufgenommen und in die Brust eines Jünglings fortgetragen wird, die wie ein Frühlingsfest geschmückt ist. Es handelte sich also um einen himmlischen Ruhm, nach dem ich mich sehnte, und Harcamone hatte ihn in unerschütterlicher Gelassenheit vor mir erreicht, dank der Ermordung eines kleinen Mädchens und, fünfzehn Jahre später, eines Wärters von Fontevrault.28

      Jetzt beginnen wir. Mein Übergang zwischen diesem langen randinschriftlichen Exergon im Sinne eines Mottos29, und unserem wahren Beginn könnte das „Vergebt mir“ von Genet sein, oder genauer die Vergebung, um die jener bittet, der „ich“ sagt, sagen wir der „Erzähler“ von Notre-Dame-des-Fleurs.

      Zunächst zur Frage des Titels. Dieses Jahr schreiben wir unter dem Titel „Questions de responsabilité VII. Pardon et parjure [Fragen der Verantwortung VII. Vergebung und Eidbruch]“ also einen Untertitel ein, nämlich „La peine de mort [Die Todesstrafe]“.

      Als ob wir bis hierher im Grunde genommen von etwas anderem gesprochen hätten.

      Nun ist aber nichts weniger gewiss. Denn jedes Mal, wenn wir es in unserem Nachdenken über die Vergebung [le pardon] für notwendig hielten, vom Nichtvergebenen [l’impardonné] und vom Nichtvergebbaren [l’impardonnable], vom Irreversiblen oder Nichtwiedergutzumachenden [l’irréparable] auszugehen, auch jedes Mal dann, wenn wir vom Über-leben sprachen, das heißt von dem, was einen angesichts des Übels eines Todes, der bereits stattgefunden hat, wehrlos zurücklässt, wie Opfer, die nicht mehr Zeugnis ablegen konnten oder die um Vergebung zu bitten, nicht mehr in Frage kam, < jedes Mal dann > sprachen wir natürlich vom Tod, aber auch, wie überall, wo es um Vergebung geht, vom Urteil, vom Urteil über ein Übel/Böses [mal] oder ein Unrecht [tort].

      Es bleibt einmal mehr, dass nicht jeder Tod und nicht einmal jeder auferlegte Tod der Urteilsspruch [sentence] oder die Anwendung einer Todesstrafe ist. Und wir werden wachsam im Hinterkopf behalten müssen, dass nicht jeder gegebene Tod, nicht jeder Mord [meurtre], nicht jedes Verbrechen gegen Lebendes, nicht einmal jede Tötung eines Menschen [homicide] notwendig dem entspricht, was man im strikten Sinne eine „Todesstrafe“ nennt, dem Begriff, dem unterstellten juridischen Begriff der Todesstrafe, wenn man auch anschließend die juridische Reinheit, die Legitimität, ja die Legalität der Todesstrafe bestreiten kann. Der Begriff der Todesstrafe präsentiert sich jedenfalls als ein Begriff des Rechts, als der Begriff einer Sanktion, die von einem Recht in einem Rechtsstaat ausgeführt wird, wenn man auch anschließend die Wohlbegründetheit dieser Selbstpräsentation bestreiten kann.

      In den vergangenen Jahren hatten wir weniger vom Tod der Angeklagten gesprochen und mehr vom Tod der Opfer, derer, denen die Gewalt bisweilen, als wären sie tot, auch das Recht auf das Wort verweigerte beziehungsweise auf die Möglichkeit, Zeugnis abzulegen und also einer eventuellen Bitte um Vergebung ausreichend gegenwärtig zu sein, (wie zum Beispiel im Falle jener südafrikanischen Frauen, denen sogar die Möglichkeit СКАЧАТЬ