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nur »eingefühlten« Mit- oder Nacherlebens, d.h. seine Verwandlung in »Erfahrung«, bedingt167. Und die Verwendung von »Erfahrungsregeln« zum Zweck der Kontrolle der »Deutung« des menschlichen Handelns ist dabei nur dem alleroberflächlichsten Anschein nach von der gleichen Prozedur bei konkreten »Naturvorgängen« geschieden. Dieser Anschein entsteht dadurch, daß wir, infolge unserer an der eignen Alltagserkenntnis geschulten Phantasie, bei der »Deutung« menschlichen Handelns die ausdrückliche Formulierung jenes Erfahrungsgehaltes in »Regeln« in weiterem Umfang als »unökonomisch« unterlassen und also die Generalisierungen »implicite« verwenden. Denn die Frage, wann es für »deutend« arbeitende Disziplinen irgendwelchen wissenschaftlichen Sinn hat, aus ihrem Material, also dem unmittelbar verständlichen menschlichen Sich-Verhalten, im Wege der Abstraktion für ihre Zwecke besondere Regeln und sog. »Gesetze« zu bilden, ist freilich durchaus davon abhängig, ob dadurch für die deutende Kausalerkenntnis des Historikers bzw. Nationalökonomen bezüglich eines konkreten Problems brauchbare neue Einsichten zu erwarten sind. Daß dies der Fall sein müsse, ist schon wegen der geringen Schärfe, außerdem aber wegen der Trivialität der überwältigenden Mehrzahl der so zu gewinnenden Erfahrungssätze nicht im allergeringsten generell selbstverständlich. Wer sich veranschaulichen will, welche Früchte die bedingungslose Durchführung des Grundsatzes der Aufstellung von »Regeln« zeitigen würde, der lese etwa die Werke von Wilhelm Busch. Seine drolligsten Effekte erzielt dieser große Humorist gerade dadurch, daß er die zahllosen trivialen Alltagserfahrungen, die wir überall in unzählbaren Verschlingungen »deutend« verwenden, in das Gewand wissenschaftlicher Sentenzen kleidet. Der schöne Vers aus »Plisch und Plum«: »Wer sich freut, wenn wer betrübt, macht sich meistens unbeliebt« ist, zumal er das Gattungsartige des Vorgangs sehr korrekt nicht als Notwendigkeitsurteil, sondern als Regel »adäquater Verursachung« faßt, ein ganz tadellos formuliertes »historisches Gesetz«. – Sein Gehalt an Erfahrungswahrheit ist als geeignetes Hilfsmittel der »Deutung« z.B. der politischen Spannung zwischen Deutschland und England nach dem Burenkriege (natürlich neben sehr vielen andern, vielleicht wesentlich wichtigeren Momenten) gänzlich unbezweifelbar. Eine »sozialpsychologische« Analyse derartiger politischer »Stimmungs«-Entwickelungen könnte nun ja selbstverständlich unter den verschiedensten Gesichtspunkten höchst interessante Ergebnisse zutage fördern, die auch für die historische Deutung solcher Vorgänge, wie des erwähnten, den erheblichsten Wert gewinnen können, – aber was eben ganz und gar nicht feststeht, ist, daß sie ihn gewinnen müssen, und daß nicht im konkreten Fall die »vulgärpsychologische« Erfahrung vollkommen genügt und also das auf einer Art naturalistischer Eitelkeit beruhende Bedürfnis, die historische (oder ökonomische) Darstellung möglichst überall mit der Bezugnahme auf psychologische »Gesetze« schmücken zu können, im konkreten Fall ein Verstoß gegen die Oekonomie der wissenschaftlichen Arbeit wäre. Für eine grundsätzlich das Ziel der »verständlichen Deutung« festhaltende »psychologische« Behandlung von »Kulturerscheinungen« lassen sich Aufgaben der Begriffsbildung von logisch ziemlich heterogenem Charakter denken: darunter ohne allen Zweifel notwendigerweise auch die Bildung von Gattungsbegriffen und von »Gesetzen« in dem weiteren Sinn von »Regeln adäquater Verursachung«. Diese letzteren werden nur da, aber auch überall da, von Wert sein, wo die »Alltagserfahrung« nicht ausreicht, denjenigen Grad »relativer Bestimmtheit« der kausalen Zurechnung zu gewährleisten, welcher für die Deutung der Kulturerscheinungen im Interesse ihrer »Eindeutigkeit« erforderlich ist. Der Erkenntniswert ihrer Ergebnisse wird aber eben deshalb regelmäßig um so größer sein, je weniger sie dem Streben nach einer den quantifizierenden Naturwissenschaften verwandten Formulierung und Systematik auf Kosten des Anschlusses an die unmittelbar verständliche »Deutung« konkreter historischer Gebilde nachgeben, und je weniger sie infolgedessen von den allgemeinen Voraussetzungen in sich aufnehmen, welche naturwissenschaftliche Disziplinen für ihre Zwecke verwerten. Begriffe wie etwa der des »psychophysischen Parallelismus« z.B. haben als jenseits des »Erlebbaren« liegend für derartige Untersuchungen natürlich unmittelbar nicht die allergeringste Bedeutung, und die besten Leistungen »sozialpsychologischer« Deutung, die wir besitzen, sind in ihrem Erkenntniswert ebenso unabhängig von der Geltung aller derartigen Prämissen, wie ihre Einordnung in ein lückenloses »System« von »psychologischen« Erkenntnissen eine Sinnlosigkeit wäre. Der entscheidende logische Grund ist eben der: daß die Geschichte zwar nicht in dem Sinn »Wirklichkeitswissenschaft« ist, daß sie den gesamten Gehalt irgendeiner Wirklichkeit »abbildete«, – das ist prinzipiell unmöglich, – wohl aber in dem anderen, daß sie Bestandteile der gegebenen Wirklichkeit, die, als solche, begrifflich nur relativ bestimmt sein können, als »reale« Bestandteile einem konkreten kausalen Zusammenhang einfügt. Jedes einzelne derartige Urteil über die Existenz eines konkreten Kausalzusammenhangs ist an sich der Zerspaltung schlechthin ins Unendliche hinein fähig168, und nur eine solche würde – bei absolut idealer Vollendung des nomologischen Wissens – zur vollständigen Zurechnung mittels exakter »Gesetze« führen. Die historische Erkenntnis führt die Zerlegung nur so weit, als der konkrete Erkenntniszweck es verlangt, und diese notwendig nur relative Vollständigkeit der Zurechnung manifestiert sich in der notwendig nur relativen Bestimmtheit der für ihre Vollziehung verwendeten »Erfahrungsregeln«: darin also, daß die auf Grund methodischer Arbeit gewonnenen und weiter zu gewinnenden »Regeln« stets nur eine Enklave innerhalb der Flut »vulgär-psychologischer« Alltagserfahrung darstellen, welche der historischen Zurechnung dient. Aber »Erfahrung« ist eben, im logischen Sinn, auch diese.
»Erleben« und »Erfahren«, die Gottl einander so schroff gegenüberstellt169, sind in der Tat Gegensätze, aber auf dem Gebiet der »innern« in keinem andern Sinn wie auf dem der »äußern« Hergänge, beim »Handeln« nicht anders als in der »Natur«. »Verstehen« – im Sinne des evidenten »Deutens« – und »Erfahren« sind auf der einen Seite keine Gegensätze, denn jedes »Verstehen« setzt (psychologisch) »Erfahrung« voraus und ist (logisch) nur durch Bezugnahme auf »Erfahrung« als geltend demonstrierbar. Beide Kategorien sind anderseits insofern nicht identisch, als die Qualität der »Evidenz«170 das »Verstandene« und »Verständliche« dem bloß (aus Erfahrungsregeln) »Begriffenen« gegenüber auszeichnet. Das Spiel menschlicher »Leidenschaften« ist sicherlich in einem qualitativ andern Sinn »nacherlebbar« und »anschaulich« als »Natur«-Vorgänge es sind. Aber diese »Evidenz« des »verständlich« Gedeuteten ist sorgsam von jeder Beziehung zur »Geltung« zu trennen. Denn sie enthält nach der logischen Seite lediglich die Denkmöglichkeit und nach der sachlichen lediglich die objektive Möglichkeit171 der »deutend« erfaßbaren Zusammenhänge als Voraussetzung in sich. Für die Analyse der Wirklichkeit aber kommt ihr, lediglich um jener ihrer Evidenz-Qualität willen, nur die Bedeutung entweder, – wenn es sich um die Erklärung eines konkreten Vorganges handelt, – einer Hypothese, oder, – wenn es sich um die Bildung genereller Begriffe handelt, sei es zum Zweck der Heuristik oder zum Zweck einer eindeutigen Terminologie, – diejenige eines »idealtypischen« Gedankengebildes zu. Der gleiche Dualismus von »Evidenz« und empirischer »Geltung« ist aber auf dem Gebiet der an der Mathemathik orientierten Disziplinen, ja gerade auf dem Gebiet des mathematischen Erkennens selbst172, ganz ebenso vorhanden, wie auf demjenigen der Deutung menschlichen Handelns. Während aber die »Evidenz« mathematischer Erkenntnisse und der mathematisch formulierten Erkenntnis quantitativer Beziehungen der Körperwelt »kategorialen« Charakter hat, gehört die »psychologische« Evidenz in dem hier behandelten Sinn in das Gebiet des nur Phänomenologischen. Sie ist – denn hier erweist sich die Lippssche Terminologie als recht brauchbar – phänomenologisch bedingt durch die spezielle Färbung, welche die »Einfühlung« in solche qualitativen Hergänge besitzt, deren wir uns als objektiv möglicher Inhalte der eignen inneren Aktualität bewußt werden können. Ihre indirekte logische Bedeutung für die Geschichte ist gegeben durch den Umstand, daß zum »einfühlbaren« Inhalt fremder Aktualität auch jene »Wertungen« gehören, an denen der Sinn des »historischen Interesses« verankert ist, und daß daher seitens einer Wissenschaft, deren Objekt, geschichtsphilosophisch formuliert, »die Verwirklichung von Werten« darstellt173, die selbst »wertenden« Individuen stets als die »Träger« jenes Prozesses behandelt werden174.