Weißes Rauschen oder Die sieben Tage von Bardorf. Uli Wittstock
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Название: Weißes Rauschen oder Die sieben Tage von Bardorf

Автор: Uli Wittstock

Издательство: Автор

Жанр: Зарубежные детективы

Серия:

isbn: 9783954627929

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СКАЧАТЬ beginnenden Haarausfall freigelegt. Um die Mundwinkel herum und auf der Hemdbrust waren Tränen, Schweiß, Speichel und was sonst Menschen in so einer Situation von sich zu geben pflegen zu einer Art Borke geronnen, die in einem seltsamen Widerspruch zu der ansonsten sehr gepflegten Erscheinung des Opfers stand. Wahrscheinlich stranguliert, hatte der Arzt mitgeteilt, bevor er gegangen war. Die Tatwaffen, wenn man überhaupt von solchen reden konnte, waren offensichtlich Tonbänder. Seit Jahrzehnten hatte Schneider solches Material nicht mehr gesehen. Er hatte die Existenz solcher Bänder sogar vollständig vergessen, regelrecht verdrängt, wie er sich gerade eingestand, dabei hatten solche Tonbänder in seiner Jugend einen großen Teil seiner Freizeit in Anspruch genommen. Seltene Stücke, denen der Ruf vorauseilte, verboten zu sein, wurden bis zur Unhörbarkeit kopiert. Ein Song namens Moscow fiel Schneider ein, in dem es der Legende nach um Panzer ging. Die Aufnahme klang dumpf, als hätte der Sänger einen Knebel im Mund, und die Gitarre plärrte mulmig, selbst wenn man den Tonkopf nachjustierte. Tonbänder waren der gewickelte Soundtrack seiner Jugend. Hier allerdings waren sie zu einem letzten Blues verknüpft worden – in einem Funkhaus.

      „Wie lange werden Sie hier noch zu tun haben?“

      Die Stimme kam ganz offensichtlich nicht vom Tonband, sondern aus dem Mund eines Menschen hinter ihm. Schneider drehte sich um.

      „Udo Malchwitz, Geschäftsführer.“

      In der Hand spielte er mit einer Visitenkarte, die er Schneider beinahe ein wenig zu beiläufig überreichte: Udo Malchwitz, magister artium, chief executive producer. Der Mann schien noch keine vierzig zu sein. In seiner Erscheinung erinnerte er Schneider an einen Fernsehmoderator, sorgfältig frisiert, gewinnendes Lächeln und mit einer bestimmenden, aber nicht zu aufdringlichen Körperhaltung, die sich nur durch das Tragen von Maßanzügen erreichen lässt. Zu allem Überfluss kaute der Geschäftsführer auf einem bleistiftstarken roten Gegenstand herum, den Schneider als Teil einer Mohrrübe identifizierte. In der Hand hielt Malchwitz ein ganzes Bündel sorgfältig geschnittener Möhren.

      „Ich gewöhne mir gerade das Rauchen ab“, sagte er und fuhr dann unvermittelt fort: „Wir müssen die Mittagssendung schon aus unserem Unterhaltungsstudio fahren. Die Kollegen brauchen den Redaktionsraum, damit wir wenigstens den Abendreport aus dem aktuellen Studio fahren können.“

      Schneider war ein lernfähiger Mensch. Im Hörfunk wurde also gefahren, und das Tempo bestimmte ein sogenannter chief executive producer. Er war allerdings Polizist und hatte nun, um im Bild zu bleiben, den Finger auf der Ampelschaltung.

      „Das Büro wird versiegelt bleiben, bis die kriminaltechnischen Untersuchungen abgeschlossen sind. Ein paar Stunden kann das noch dauern.“

      Die Möhrenstückchen kurvten einen Sekundenbruchteil schneller im Mund des Geschäftsführers.

      „Wir haben rund dreihunderttausend Hörer pro Stunde und gute Werbekunden, die auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zu uns stehen. Die Konkurrenz hat seit heute Morgen allerdings einen Vorteil. Bei denen liegen nämlich keine Leichen in den Redaktionsräumen rum, oder täusche ich mich?“

      „Uns ist noch nichts zu Ohren gekommen“, sagte Schneider.

      So perfekt wie der Maßanzug, so geschliffen erwies sich auch die Sprache des Geschäftsführers. Die Vokale glitten ihm ohne eine geringste Färbung von der Zunge.

      „Wir sollten die Redaktion gegen die Schwachköpfe vom Fernsehen komplett abschließen.“

      „Vermuten Sie den oder die Täter bei Ihren Fernsehkollegen?“

      Malchwitz biss ein weiteres Möhrenstück ab.

      „Gehen wir doch in mein Büro“, sagte Malchwitz.

      Wäre die Stadt an den Ufern eines nennenswerten Flusses errichtet worden, so hätte sich die Vorderfront des Gebäudes wohl zum Wasser hin geöffnet – ein großflächiges Ensemble aus Glas und schlanken Metallstreben, das nach den Wettbewerbsunterlagen des Architekten florale Bezüge herstellen sollte. Da es der Stadt an einem Fluss mangelte, nahm die Fassade die Sichtachse der bestimmenden Gebäude auf: Vom Getürm des Müllheizkraftwerks im äußersten Westen über die Kirchdächer und Bürgerhäuser der Altstadt bis hin zu den sich duckenden Flachbauten im Gewerbegebiet am Ostrand. Tagsüber brach sich das Licht auf der unregelmäßigen Fassade des Gebäudes und verwirrte vor allem Vögel, die regelmäßig gegen das Glas prallten, aber auch das Mondlicht sammelte sich in den Scheiben, sodass nach Sonnenuntergang vor allem Betrunkene gegen die bruchsicheren Scheiben knallten.

      Auch das Büro des Geschäftsführers öffnete sich zur Stadt und ermöglichte eine mannshohe Aussicht auf das andere Machtzentrum: Landtag und Staatskanzlei, schräg gegenüber und davon nur wenig entfernt die abweisende Fassade der Landesbank. Ein Schreibtisch oder, wie Schneider eher fand, eine Schreiblandschaft, beherrschte den Raum. Die Konstruktion erinnerte an eine komplizierte Autobahnabfahrt. Mehrere Ausfahrten und Abzweigungen in Form von zusätzlichen Tischen machten es dem Benutzer möglich, auf der täglichen Irrfahrt von Sitzungen und Meetings neue Themen und Inhalte anzusteuern. Zu diesem Zweck waren Aktenordner, Hefter, Ausdrucke, Artikel, Zeitschriften, Broschüren, Bücher, Faxausdrucke, Notizzettel, Memos, Mitteilungen, Kopien und Visitenkarten auf verschiedene Stapel verteilt. Ein großflächiger Computerbildschirm sowie ein Laptop standen wie Burgwächter inmitten dieser scheinbar herrschaftsfreien Papierwelt.

      „Wilkhahn war sicherlich nicht der Beliebteste hier im Hause, obwohl er als Journalist durchaus einige Qualitäten hatte. Allerdings gab er sich große Mühe, diese Eigenschaften in möglichst viel Rotwein aufzulösen.“

      Malchwitz hatte ihn an einem runden Tisch platziert, den Schneider als typisches Konsensmöbel einer modernen Führungskultur identifizierte. An eben einem solchen Tisch hatte der Polizeipräsident mit Schneider ein halboffizielles Gespräch geführt, heute Morgen, nachdem das Handy ihn vorzeitig zum Dienst beordert hatte.

      „Der Fall ist heikel, immerhin ist das Opfer ein anerkannter Journalist.“

      Die Stirn des Präsidenten faltete sich noch tiefer.

      „Sie wissen, dass wir uns um einen guten Kontakt zur Presse bemühen.“

      Der Vorgänger des Präsidenten hatte erst vor einigen Monaten auch aufgrund einer Pressekampagne vorzeitig das Chefzimmer räumen müssen, und so mancher im Präsidium glaubte, der Nachfolger habe seinerzeit die Fäden gezogen. Nun jedenfalls saß Schneider noch vor der Mittagspause erneut an einem Katzentisch der Macht, nur in einem anderen Gebäude.

      „Also, wie lange werden Sie brauchen, bis wir unsere Redaktionsräume wieder nutzen können?“

      Der ihm zugewiesen Stuhl wirkte mit seiner Stahlrohrlehne sehr klassisch, verhinderte allerdings ein bequemes Sitzen. Schneider fühlte sich ein wenig unbehaglich.

      „Die Spurensicherung wollte mir Bescheid sagen. Es kann nicht mehr lange dauern.“

      Malchwitz hielt erneut eine Möhre in seiner Hand. Diesmal benutzte er sie jedoch als Taktstock, um seine Worte zu orchestrieren. „Wir können hier ganz ehrlich sein. Natürlich haben wir einen Auftrag. Seit Einführung der Neuen Geschäftsgrundlagen ist die Pressefreiheit ein hohes Gut, und die Medien haben eine große Macht. Aber wir haben auch eine Verpflichtung. Über was reden die Menschen morgens beim Bäcker, welches Thema bestimmt die Kaffeepause im Büro und welche Nachricht wird zu Hause am Abendbrottisch diskutiert? Wir geben unseren Hörern und Zuschauern eine Orientierung, dafür werden wir bezahlt. Und deshalb brauchen wir Arbeitsbedingungen, die uns nicht einschränken, falls Sie verstehen, was ich meine.“

      „Ich verstehe Sie voll und ganz“, СКАЧАТЬ