Название: Führerin
Автор: Gregor Eisenhauer
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежные детективы
isbn: 9783954622962
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Klimts Sekretär trat an das Stehpult und schenkte Wasser in das halb volle Glas. Sein Chef winkte ihn unwirsch beiseite, aber die kleine Geste der Beruhigung, sei sie verabredet gewesen oder auf eigenen Einfall des Sekretärs hin erfolgt, brachte ihn wieder ein wenig zur Besinnung.
«Zu den Fakten: Rosenbergs Aufzeichnungen galten und gelten als verschollen. Am dreißigsten Jahrestag der Machtergreifung erschien in einem deutschen Nachrichtenmagazin die Meldung, dass im sowjetischen Außenministerium geplant sei, zwei Bände der Rosenberg-Tagebücher zu veröffentlichen. Die Meldung war einfach von der sowjetischen Presse übernommen worden und erwies sich als falsch. Jede Nachfrage bei den russischen Behörden blieb ohne Antwort. Jede weitere Nachforschung schien aussichtslos.»
Klimt klopfte wiederholt mit seinem Gehstock auf den Boden.
«Vollkommen aussichtslos. So auch der Befund meiner lieben historischen Kollegen, die ich um Rat fragte. Von welcher Seite kam Hilfe? Meine Damen und Herren, zuweilen kann man die Ironie des Schicksals gar nicht genug belächeln! Eine Nachricht, die auch vielen Laien nicht entgangen sein dürfte: Die Verliese des vatikanischen Archivs öffneten sich vor einiger Zeit. Ahnen Sie, was das für einen Historiker bedeutet, meine Damen und Herren?! Stellen Sie sich vor, die Mafia hätte über Jahrzehnte hinweg penibel Buch geführt über all ihre Untaten, über all die Politiker, die von ihr geschmiert wurden, über all die Komplotte, die je mit den Mächtigen der Wirtschaft geschmiedet wurden, Band um Band eine Chronik des Grauens! Und nun erst die katholische Kirche! Nein, nein, ich weiß, Sie erwarten, dass mir Schaum vor den Mund tritt und ich nun eine meiner gewöhnlichen Brandreden gegen diese schlimmste aller spirituellen Verbrecherorganisationen halten werde. Keinesfalls. Ich bewundere die katholische Kirche für die organisatorische Effizienz ihrer Machtausübung. Ich bewundere sie für ihre vatikanische Bibliothek und ihr Archiv. Das Gedächtnis der Menschheit! Gut, ein wenig einseitig sortiert, aber was für ein Schatz an Geheimwissen! Annähernd zwei Jahrtausende spionierten Priester und Laien im Namen des Allmächtigen alles und jeden aus, der in den Ruch kam, der Kirche schaden zu können!»
Klimt schien kurz vor einem Herzinfarkt, so heftig schnaufte er.
«Ahnen Sie etwas? Ahnen Sie, wie umfangreich die Dossiers über all die Mächtigen der nationalsozialistischen Bewegung sind? Nein, Sie können es nicht ahnen, denn es übersteigt Ihre Vorstellungskraft. Ja, ich gebe es gern zu, selbst meine Erwartungen wurden übertroffen! Jeder weiß, dass der Vatikan sich mit Hitler einließ, weil er um die Zukunft der Kirche in einem Reich völkischen Glaubens bangte. Jeder weiß, wie wenig die Antisemiten in Soutane getan haben, um die Judenverfolgung zu verhindern. Alles bekannt, alles bekannt, wenn auch ungern gehört. Aber in welchem Ausmaß die vatikanischen Spitzel die Führungskräfte der NSDAP observiert haben, hat selbst mich überrascht. Allen voran – ja, Sie werden es nicht glauben, allen voran Alfred Rosenberg. Er, der Chefdenker der Nazis, war der ärgste Feind, die gefährlichste Bedrohung der vatikanischen Kamarilla. Er hielt nichts vom Christentum, nichts vom Papst, er wollte eine germanische Religion und war deshalb von Beginn an im Fadenkreuz der Inquisitoren. Jede Schrift von ihm, jedes Buch, jede wichtige Akte in Abschrift, findet sich im Vatikan, natürlich auch das Manuskript seiner Erinnerungen, kurz vor Kriegsende verfasst – und sein Tagebuch!»
Im Saal wurde es mit einem Schlag dunkel. Auf der Leinwand hinter dem Stehpult wurde es blendend hell. Ein Raunen ging durch den Saal. Einzelne standen auf, Stühle fielen. Aber der Schock über das Bild, das auf die Leinwand projiziert wurde, bannte die Leute an ihre Plätze.
Klimt blickte mit sichtlicher Genugtuung auf die erschrockenen Gesichter vor ihm. Er wies mit seinem Gehstock in die große Runde der Zuhörer.
«Ich sehe, dieser Mann hinter mir ist Ihnen allen noch ein Begriff. Aber ich sehe an Ihren erstaunten Gesichtern auch, dass Sie den Zusammenhang mit dem bisher Gesagten noch nicht ganz nachvollziehen können?! Keine Sorge, das wird bald der Fall sein. Dieser hässliche und sehr böse Mensch hinter mir ist Charles Manson. Richtig, jener Charles Manson, der durch das Tate-LaBianca-Massaker seinen luziferischen Ruhm erlangte. Noch immer sitzt er in Haft, seine Gnadengesuche wurden selbstredend abgelehnt. Sein Mythos, die Verkörperung des Bösen schlechthin zu sein, der ist allerdings überlebensgroß. Nun, meine Damen und Herren, darf ich Sie bitten, Ihre Aufmerksamkeit auf ein Detail dieses fotografischen Porträts zu richten. Sehen Sie es, Sie sehen es! Zwischen den Augenbrauen: ein Hakenkreuz! Nein, keiner der Mithäftlinge hat es ihm eingeritzt. Das würde keiner wagen. Seine Herrschaft dort ist unbestritten. Also, woher kommt dieses Tattoo? Er hat es sich selbst tätowieren lassen. Charles Manson ließ sich ein Hakenkreuz auf die Stirn tätowieren?! Warum wohl? Ein Spinner, sagen Sie, ein Spinner. Sicher, ein Spinner! Das erklärt ja alles hierzulande.»
Klimt verkostete die Worte mühsam mit den Kiefern mahlend, als wollte er bewusst ihren bitteren Nachgeschmack spüren. Müde stützte er sich auf seinen Gehstock. Sein herrischer Seitenblick wies den Sekretär an, das Licht im Saal wieder anzustellen. Mit einem kleinen, bösen Lächeln beobachtete er, wie einige sich die Hände vor die geblendeten Augen schlugen.
«Keine Sorge, meine Damen und Herren, wir kommen zum Ende. Ich fasse mich kurz. In den Tagebuchaufzeichnung von Alfred Rosenberg finden sich detaillierte Angaben zum Unternehmen ‹Barabbas›, jenes Unterfangen, das den Fortbestand der nationalsozialistischen Ideologie und den Endsieg über das Judentum sichern sollte. Ein Dokument des Fanatismus, aber ein Geniestreich der Strategie. Geld war ausreichend außer Landes geschafft worden. Die Elite der SS konnte entweder im eigenen Land untertauchen oder fand – dank tätiger Mithilfe des Vatikans wie des italienischen Roten Kreuzes – eine neue Identität im Nahen Osten oder in Südamerika. Dieser lose Verbund alter Kameraden trug über Jahre, über Jahrzehnte hinweg. Historiker haben das immer bestritten, weil die Zeitzeugen es bestritten haben. Aber die Zeitzeugen waren mehrheitlich Komplizen der Nazis!»
Klimts Stimme überschlug sich vor Empörung.
«Ja, glauben Sie denn, ein Adolf Eichmann gibt offen und ehrlich Auskunft über die Pläne und Ziele der untergetauchten Nazis! Lachhaft! Wie naiv muss man sein? Wie gutgläubig? Halt, werden Sie einwenden, gut und schön, der Wahn lebte fort, die materiellen Mittel waren gegeben, aber ausrichten konnten diese Altnazis doch nichts mehr, waffen- und machtlos wie sie waren. Meine Damen und Herren, das ist leider ein Irrtum. Die Macht», Klimt tippte sich demonstrativ an den Kopf, «die Macht sitzt hier! Hier ist der Ursprung des Bösen. Die überlebenden Nazis wussten sehr genau, was sie wollten, und sie wussten sehr genau, wie sie es umsetzen mussten. Die Organisation СКАЧАТЬ