Название: Visionen des Fritz Piccolo und der Punkt über dem i
Автор: Otto W. Bringer
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Контркультура
isbn: 9783347099340
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Meine Neugier steigert sich, während Justus gelassen zuschaut. Beruhigt offensichtlich, dass nichts explodierte, keine Sirene aufheulte, um nie mehr aufzuhören.
Fingere aus dem brombeerroten einen weiteren, wiederum kleineren Umschlag heraus. Schätze DIN C 6. Farbe nicht schwer zu erraten: Erdbeerrot. Warmes, leckeres Rot zum Reinbeißen. Ob es der Letzte Hüter des Geheimnisses ist? Lüpfe die Klappe, schau hinein und siehe da: wieder ein Umschlag. So winzig, dass DIN keine Norm dafür fand, ihn in die Reihe zu bringen. Ob Fritz ihn selber gebastelt hat? Zuzutrauen wäre es ihm. Leuchtet so hell und so rein wie das Rot auf Martin Schongauers «Maria im Rosenhag» in Colmar. Müsste eine Pinzette nehmen, den winzigen Umschlag aufzuschlagen. Zu sehen, was drin ist oder nicht. „Justus, bin gleich wieder da.“
Leih mir von Friseur Fritz um die Ecke eine Pinzette.
Komisch alle netten Leute heißen Fritz. Frauen Friederike, wie meine Cousine. Ich wollte sie heiraten, weil sie mich geküsst an meinem vierzehnten Geburtstag. Statt irgend so ein blödes Jugendbuch zu schenken. „Bring mir die Pinzette gleich zurück,“ ruft mir der Friseur nach. Es könnte ein Kunde kommen, dem ich Härchen aus der Nase zupfen muss.“
„So, da bin ich wieder.“ Justus gibt mir den letzten Umschlag zurück, den kleinsten von vier bisher. Seine Augen blicken mich spöttisch an, als wollte er seine Neugier kaschieren. Bin sicher, er ist gespannt wie ich auf den Inhalt des letzten Umschlages. Was ein Haar aus Nasenlöchern reißen kann, wird auch aus einem winzigen Umschlag das entscheidende Stück Papier holen, und sei es noch so klein. Die Frage aller Fragen eine Antwort bekommen. Rot muss sie sein, sonst hätte der ganze Zirkus keinen Sinn gehabt.
Wäre Pinzette eine Angel, hätte sie bald den Fisch am Haken. Der Neugier für Futter gehalten und schon sein Leben ausgehaucht. Wir aber wollen nichts Totes. Rotes suchen wir. In so vielen roten Hüllen kann nur Rotes zu finden sein. Letzten Endes. Doch das Ende ist kein Ende. Immer noch etwas viereckiges rotes, das wir öffnen müssen, um zu wissen. Winziger als alles bisher. Nicht größer als eine Briefmarke.
Mein Gott, wie schwer ist es, an Wissen zu gelangen. Fast so schwer wie zu behalten, was man weiß. Wer die Weisheit erfunden hat, sollte sie für sich behalten. Und nicht anderen zumuten, die keine Geduld aufbringen. Frage nach Frage, nach Frage stellen, aber keine Antwort bekommen. Zornig und wütend auf alles, was denken kann.
Auf den sechs Quadratzentimetern kein Porträt von irgendwem, wie bei Briefmarken. Kein Bauwerk von Weltruhm. Keines mit Früchten oder Automobil-Klassikern. Schlichtweg nur ein roter Punkt. Dick. Rot. Und rund.
Rot gemixt aus allen Rottönen der Palette. Das ideale Rot sozusagen. Rot international. Red international. Rouge international. Rosso internazionale. Rojo internacional.
Halte die Marke zwischen Daumen und Zeigefinger. Fühle sie dicker als Briefmarken sonst. Doppelt gefaltetes Papier zusammengeklebt zu einem, wie es scheint. „Moment, hole mir eine Rasierklinge.“ Die Marke zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand, die Klinge in der rechten. Auch von Daumen und Zeigefinger festgehalten. Nichts darf schief gehen. Statt das Papier zu spalten, den linken Zeigefinger um seine Kuppe bringen.
Just in diesem Augenblick wird mir klar, alles wirklich Wichtige erledigt man mit zwei Fingern: Die Nadel, den Faden durchs Öhr zu fädeln. Gelingt es nicht, der Mantel ohne Knopf kein Schutzmantel mehr. Wie eine Hand keine Hand mehr ist, wenn zwei Finger fehlen, Klavier zu spielen. Oder bis fünf zu zählen. Mon Dieu, welch Gedankenspiel. Achtung, jetzt die Klinge angesetzt.
Nie bisher hatte ich eine so diffizile Aufgabe vor mir. Nie vorher war Schärfe so eminent wichtig wie jetzt. Nie war ich so aufgeregt, dass meine Hand zittert. „Ruhig bleiben!“ befehle ich mir. Stütze beide Ellbogen auf den Tisch. Atme tief ein. Nähere die Klinge dem papiernen Minimum. Setze die Schärfe zwischen die beiden Papiere. Beginne langsam, ganz langsam die Ränder des Papierchens ringsum aufzuschlitzen. Drei Seiten erledigt, fällt mir auf, dass sich die obere Hälfte bewegen lässt. Umblättern im Kopf. Vorsichtig lege ich sie um, wie man einen gefalteten Briefbogen auffaltet. Neugierig was mir der Absender geschrieben hat. Hier ergibt sich ein längliches Rechteck. Mit einem mikrokleinen Text. Hurra!!!!
Aber die Schrift kann ich nicht lesen. Eine Lupe muss her. Meine von Optiplus vergrößert 300%. Brauche sie, um die winzigen Punzen in silbernen Gegenständen zu identifizieren. Vasen, Kerzenleuchtern oder Tabletts. Auf der aufgeklappten Innenseite vergrößert lese ich. Laut, damit Justus es mitkriegt:
Der Taschenschirm «Knirps» von Fritz Piccolo. 1932 erfunden und patentiert. Der einzige mit einem roten Knopf am Griff. Und jeder weiß, man muss ihn drücken, und schon wird aus dem Minimum ein maximaler Regenschutz. Schirmseide in den jeweils aktuellen Modefarben. Erstes Gebrauchs- Produkt mit Überlebens-Garantie. Will heißen, er überlebt seinen Besitzer. Also vererbbar. Soweit so gut. So weit bekannt. Im Plan ein neues Knirps-Modell, das als fliegender Briefträger Botschaften zuverlässig und portofrei zum Empfänger bringt. Von Minidüsen getrieben und einem Mini-Navigator gesteuert, Höhen erreicht, die es ermöglichen, die Alpen zu überfliegen zum Beispiel. Einen Liebesbrief von Romeo für Julia in Verona auf ihrem Balkon deponieren. Ohne dass ihre Eltern etwas davon bemerken. Im neuen Marken-Logo Knirps ersetzt den bisherigen Punkt ein roter Granat über dem i. Symbol für Mehrwert.
Solingen, 1. Mai 1932 gezeichnetFritz Piccolo, Dr. Legislativus, Notar
„Da hat sich Piccolo schon früh einfallen lassen, was auch heute noch jeden vom Hocker reißt. Die Fantasie entfacht bei Jung und Alt trotz Telefon und Eilbriefen Botschaften versendet, wenn ʼs nicht regnet. Und auch noch portofrei. Wie mögen seine Leute es wohl hingekriegt haben? Gespannt, ob es je realisiert wird. Zum Papierchen: es ist älter als wir beide. Weißt Du Justus, was an diesem Datum war? Es muss Wichtiges passiert sein. Sonst stände es hier nicht drauf.“
„Erinnere mich an eine gerahmte Urkunde hinter dem Schreibtisch von Piccolo. Moment, muss mich konzentrieren. Ja, da fällt mir ein, 1932 übernahm Fritz Piccolo die Firma. Nachdem er alle Verwandten ausgezahlt hatte. Dieses Datum muss für ihn wie eine Wiedergeburt gewesen sein. Die Idee gehabt, den schon seit 1928 verkauften Taschenschirm noch kleiner zu machen. Technisch zu verbessern und die Marke «Knirps» zu kreieren. Selber ein Knirps und Großes im Kopf. Der erste taugliche Taschenschirm, der diesen Namen verdient. Wir haben auf 2 x 3 Quadratzentimetern Papier erfahren, dass Piccolo zu Großem fähig ist. Kleines, selbst Minikleines macht sich groß. Der rote Granat über dem i das neue Symbol für Genialität. Eines Tages wird dieser 25 Zentimeter kleine Knirps die 4748 Meter des Mont blanc überfliegen. Und wieder der Größte sein. Um es auf den Punkt zu bringen. Piccolos Mantra.“
„Das also ist des Pudels Kern“, Justus soll wissen, dass ich meinen Faust kenne. „Markenkern eines Taschenschirms, der eigentlich Piccolo heißen müsste, nach seinem Erfinder. Aber Dein schlauer Fritz sah die Welt wie sie war. Noch sind nicht genügend italienische Pizzabäcker in unserem Land, Deutsche kennen Piccolo nur als kleine Sektflasche, den Vormittag in zwei erträgliche Hälften zu teilen. Das Wort Knirps aber ist allen geläufig. Unter Zehn sind alle Kinder Knirpse. Monsieur Fritz wird diese Chance erkannt und seinen Taschenschirm «Knirps» genannt haben. Selber nicht größer als ein Meter zweiundfünfzig, mit dem Zollstock gemessen. Mehr sein als scheinen der Beweis. Wie Du mir erzähltest, eroberte schon der erste Knirps die ganze Welt. Überall da, wo es plötzlich schauern könnte, Leute mit einem Knirps in Hand- oder Aktentasche unterwegs. Beruhigt, er schützt sie vor bösen Überraschungen. Sollte eines Tages der neue Knirps die Alpen überfliegen, könnte er noch einen Mehrwert bieten: Salz auf den vereisten Gotthardpass streuen und sein Besitzer von der Schweizer Bergpolizei Geld dafür verlangen.
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