Gemordet wird in langen Sommernächten: Krimi-Lesefutter Thriller Paket. A. F. Morland
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      Zehn Minuten nach halb sieben konnten wir Tom Harris und eine zerbrechlich wirkende Mirja Stewart begrüßen. Als sie mir die Hand gab, fühlte ich, dass sie zitterte. Sie hatte einen Schock erlitten, und ich befürchtete, dass sie drinnen, wenn man ihr den Bruder zeigte, zusammenklappen würde. Ich nahm deshalb Tom beiseite und raunte ihm zu, die Sache so schnell wie möglich ablaufen zu lassen. Er beruhigte mich mit einem Kopfnicken.

      Ein dünner Kerl mit einem schneeweißen Leinenanzug um die spitzen Schultern begrüßte uns mit der Feierlichkeit eines Bischofs.

      Tom klärte den Mann auf, dass er bereits angerufen hätte, und zeigte ihm seinen Dienstausweis.

      Der Dünne verzog das feierliche Gesicht einen kleinen Augenblick lang, um hinterher gleich wieder den Vorhang der Trauer fallen zu lassen.

      „Ich darf vorausgehen“, sagte er mit einer erstaunlich tiefen Stimme, die ich ihm nicht zugetraut hätte.

      Er wandte sich um und stakste durch den kahlen Korridor. Unsere Schritte hallten gespenstisch von den Wänden wider. Ich sah, wie Susan fröstelnd die Schultern hob und damit den schlanken, nackten Hals ein wenig verkürzte.

      Wir erreichten eine blütenweiße Tür, auf die eine römische Fünf aufgepinselt war.

      „Hier ist es“, sagte der Dünne und drückte die Tür zur Seite. Es war eine Schwingtür, die sich nach beiden Seiten bewegen ließ. So konnten die auf kleinen Rädern laufenden Sargbetten mit den Leichen ohne viel Mühe aus und ein transportiert werden.

      Der Raum, den wir betraten, war so groß wie ein kleiner Tennisplatz. Von der Decke flutete grelles Neonlicht und ließ uns vergessen, dass draußen sich allmählich die Nacht auf Chicago senkte.

      Rechts neben der Tür stand ein schmaler Schreibtisch und daneben ein weißlackierter metallener Karteischrank.

      Der Dünne hatte bereits einige Vorarbeit geleistet. Auf dem Schreibtisch lagen sechs neue Karteikarten. Ich lag richtig, als ich vermutete, dass es die frisch ausgestellten Karteikarten der fünf Bankräuber und diejenige von Peter Stewart waren.

      „Wen wollen Sie als erstes sehen?", erkundigte sich der Dünne mit taktvoll gedämpfter Stimme.

      „Peter Stewart“, erwiderte Tom Harris.

      Der Leichenheini nickte servil. Er warf einen Blick auf die Karteikarte, merkte sich die rechts oben vermerkte Nummer, trat zu einer übersichtlichen Knopftafel und drückte die entsprechende Taste nieder.

      Es erklang das leise Surren eines Elektromotors. Wie von Geisterhand bewegte sich plötzlich ein Segment aus der langen Wand, hinter der die unsichtbaren Kühlboxen ihrer Aufgabe nachkamen, die Leichen frisch zu halten.

      Der Körper des Toten war mit einem Leinentuch zugedeckt.

      Wir gruppierten uns mit verhaltenem Atem um den Leichnam. Obwohl mir vor allen Dingen die frostige Kälte aus der Box entgegenschlug, wehte mir doch auch ein penetrant süßlicher Leichengeruch in die Nase.

      Selbst dann, wenn man so etwas mehr oder weniger oft erlebt hat, kann man sich an diesen eigenartigen Geruch nicht gewöhnen. So riecht der Tod. Und man schaudert, wenn man damit konfrontiert wird.

      Mirja Stewart hielt sich tapfer. Steif und aufrecht wartete sie darauf, dass der Dünne das Leinentuch hochheben würde.

      Der Dünne blickte aber zuvor noch auf Tom, und erst als dieser ihm zunickte, zog er das weiße Laken von Peter Stewarts Kopf und legte den Saum auf die Brust des Toten.

      Es ging einem ans Herz, die frischen Züge des Jungen zu sehen und zu wissen, dass sie nichts mehr auf dieser Welt zum Lachen bringen konnte.

      Das Gesicht des Jungen war grau. Die blutleeren Lippen klafften ein wenig auf und ließen die Schneidezähne unter der Neonbeleuchtung matt schimmern.

      Mirja Stewart nickte Tom Harris zu. „Er ist es. Das ist mein Bruder Peter.“

      Sie wandte sich um und wollte einen Schritt zurück machen. Ich erkannte, dass sie das Gleichgewicht im selben Moment verlor, und sprang zu ihr. Gerade noch rechtzeitig, um sie aufzufangen, sonst wäre sie lang auf die kalten Steinfliesen hingeschlagen.

      Tom half mir, sie zum Schreibtisch zu tragen. Dort setzten wir sie auf den Stuhl und bemühten uns um sie.

      Ihre Ohnmacht dauerte zum Glück nur eine halbe Minute. Als sie die Augen wieder aufmachte, blickte sie uns benommen an. Dann lächelte sie traurig und bat uns um Entschuldigung.

      Tom bat sie, vorläufig auf dem Stuhl sitzen zu bleiben. Dann ging er mit Susan und mir zu dem Dünnen und forderte ihn auf, uns die toten Bankräuber vorzuführen.

      Wir kannten keinen von ihnen, und ich sah Susan an, dass sie froh war, die Sache so schnell hinter sich gebracht zu haben.

      Mirja Stewart hatte sich inzwischen so weit erholt, dass sie mit uns, aber ohne unsere Hilfe, das Leichenschauhaus verlassen konnte.

      „Können Sie uns dafür irgendeine Erklärung geben, Miss Stewart?“, fragte Tom als wir aus dem Leichenschauhaus waren. „Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr helfen kann, Mr. Harris.“ Tom lachte bitter. „Lassen Sie sich deshalb keine grauen Haare wachsen, Miss Stewart. Ich wäre schon zufrieden, wenn Sie mir gestatteten, einen Blick in Peters Zimmer zu werfen.“

      „Jetzt?“, fragte Mirja erstaunt.

      Mirja sah ihn mit stumpfem Blick an.

      Sie wirkte geistesabwesend, als sie den Kopf schüttelte.

      „Kannten Sie Peters Freunde, Miss Stewart?", erkundigte sich Tom.

      „Nein“, sagte Mirja leise. „Er vertraute sich mir überhaupt nie an. Er sprach selten mit mir über seine Pläne und eigentlich nie über seine Freunde. Ich hätte wissen sollen, dass das einen Grund hatte.“

      „Er wohnte bei Ihnen?“

      „Ja.“

      „Wurde er nie von einem Freund abgeholt?“

      „Nie.“

      „Haben Sie vielleicht mal zufällig einen Revolver bei seinen Sachen entdeckt?“

      „Ich habe seine Sachen nie angerührt. Er wollte das nicht. Er wollte überhaupt in Ruhe gelassen werden.“

      „Warum zog er dann nicht einfach aus?“

      „Das hatte er nicht nötig. Ich wusste, dass er in Ruhe gelassen werden wollte, und ließ ihn deshalb in Ruhe. Wozu also hätte er ausziehen sollen?“

      „Arbeitete Ihr Bruder, Miss Stewart?“

      „Nicht regelmäßig.“

      „Was machte er?“

      „Er machte alles, wenn er Geld brauchte, nehme ich an. Er hat mit mir nie darüber gesprochen.“

      „Hatte er immer Geld?“

      „Ich glaube schon.“

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