„Ich will nicht zu Hassel", hört er sich sagen. „Sind Sie über Weihnachten hiergewesen?"
Er sieht, wie die Frau erstaunt auf den Mann blickt, dann zu ihm weiter.
„Natürlich war ich hier", meint der Rancher. „Was soll das?"
„Ich suche einen Mann, der Weihnachten nicht hier war. Vielleicht kam er kurz danach an. Er muss Dale heißen?"
Die Augen des Siedlers sind schmäler geworden.
„Also kein Cowboy?"
„Nein. Aber das spielt keine Rolle. Kennen Sie einen Mann, der Dale heißt?"
„Dale ... Da mag es vielleicht mehrere geben. Ich kenne Dale Ryan. Ihm gehört der Store in der Stadt. Ob er Weihnachten da war, weiß ich nicht. Im Winter kommen wir kaum in die Stadt."
„Wie geht sein Geschäft?"
„Ich glaube, nicht sehr gut. Hassel lässt sich viele Dinge seit über einem Jahr direkt von der Bahnlinie holen. Er bekommt sie dadurch wesentlich billiger. Jetzt, wo die Bahn durchgeht bis Kalifornien, soll sich das noch mehr auswirken."
„Hat Ryan Familie?", will Bill gespannt wissen.
„Ja, hat er. Warum suchen Sie ihn?"
„Ich weiß nicht, ob ich ihn suche. Das muss ich erst sehen. Der, den ich suche, hat einen Mann ermordet. Heißt sonst noch jemand Dale?"
„Hassels Sohn. Sonst wüsste ich niemanden."
„Wie alt?"
„Zwanzig, Mister. Ein wilder Bursche, der seinem Vater hilft, das Geld unter die Leute zu bringen."
„Danke", sagt Bill und wendet sein Pferd. „Vergessen Sie, dass ich hier war."
„Schon geschehen. So long!"
*
Bill reitet auf die Stadt zu. Ryan und Hassel. Vielleicht ist es einer der beiden. Wahrscheinlich Ryan, dessen Geschäft schlechter als früher geht und der seinen Haushalt vielleicht nicht rechtzeitig genug darauf umgestellt hatte. So etwas soll vorkommen.
In der Ferne sieht er Rinderherden. Es sind Herefords. Reiter sind zu erkennen. Hassel scheint ein mächtiger Mann zu sein. Sicher hat sein Sohn es nicht nötig, einen Zug zu überfallen und Kopf und Kragen dabei zu riskieren.
Die Stadt kommt schnell näher. Noch vor dem ersten Haus ist ein Pfahl in den Boden gerammt, an den ein Brett quer angenagelt ist. Ehemals war etwas mit Teerfarbe darauf geschrieben. Wahrscheinlich der Name der Stadt. Es ist nicht mehr zu lesen.
Dahinter steht das erste niedrige Haus. Dann ein Saloon mit einer flachen Fassade, auf die Fenster und Gardinen gemalt sind, die ein zweites Stockwerk vortäuschen sollen, von dem jedes Kind weiß, dass es doch nicht existiert.
Zwei Männer lümmeln vor dem Saloon unter dem Vordach an der Wand und rauchen. Sie blicken zu ihm her.
Vor dem nächsten Haus spielen ein paar Kinder. Dann kommt das Office des Sheriffs. Ein Mann mit grauen Haaren, einem gutmütigen Gesicht und dem Stern an der Lederweste sitzt auf dem Gehsteig davor in einem knarrenden Schaukelstuhl.
Bill reitet weiter. Der Sheriff und er haben sich kurz gemustert. Man scheint es in Hassel Junction um diese Zeit gewöhnt zu sein, dass Fremde in die Stadt kommen, durchreiten und dann mit Hassels Crew zurückkommen.
Das nächste ist wieder ein Saloon. Er hat wirklich ein Obergeschoss. Vielleicht hat das den anderen Salooner zu der falschen Fassade angeregt.
Und genau gegenüber der Store. Darüber ein grell gelbes, leicht verwittertes Schild. Und darauf der Name:
Dale Ryan.
Bill reitet bis zum Mietstall und gibt sein Pferd ab. Dann schlendert er bis zu dem Store zurück. Wenn er Glück hat, kann er die Stadt schon morgen verlassen.
Ob er erst den Sheriff verständigen soll? Das Knarren des Schaukelstuhles dringt bis zu ihm her. Er wird den Mann nicht in seiner Ruhe stören.
Entschlossen schiebt er die Tür auf und tritt über die Schwelle. Die Fichtenholzdielen dahinter knarren, als er die Füße daraufsetzt.
Ein Mann kommt durch eine Hintertür, nachdem Bill bis an die Theke getreten ist. Es ist ein kleiner, krummer, ausgelaugter und glatzköpfiger Mann mit einem Raubvogelgesicht.
„Sie wünschen, Fremder?", fragt er mit Fistelstimme.
Bill weiß sofort, dass das auch nicht sein Mann ist. So hatte der vor der Hütte nicht gesprochen, als er über die Schulter etwas zu den zurückgebliebenen Banditen gesagt hatte.
Darüber ist er erleichtert, weil er daran denkt, dass Ryan Familie haben soll.
„Ich brauche Munition für diesen Colt", entgegnet Bill und legt seine Waffe auf den Ladentisch.
„45er", meint der Mann und kramt in einem Regal herum. Er legt eine Schachtel auf den Tisch.
Bill bezahlt, bricht den Karton auf und steckt die schimmernden Patronen in die Hosentaschen. Sie klappern mit seinem Stern zusammen. Er murmelt einen Gruß und geht hinaus.
*
Als er den Saloon mit Obergeschoss betritt, zuckt das Mädchen an der Theke zusammen.
Er geht auf sie zu und lächelt. Er ist nicht verblüfft, sie hier zu sehen, weil Tetley ihn darauf vorbereitet hat. Und doch hat er in den langen Wochen in den Bergen nicht mehr an sie gedacht. Sie trägt ein schillerndes Kleid, das mit bunten Glasperlen besetzt ist. Ihr Haar ist mit einem mexikanischen Kamm nach oben aufgesteckt.
„Hallo, Miss Solar", murmelt Bill, als er dicht vor ihr steht. Er überfliegt den Saloon mit einem einzigen Blick. Er ist mit ihr allein.
„Ich kann mich nicht erinnern, jemals meinen Namen zu Ihnen gesagt zu haben", gibt sie zurück.
„Den hat mir Tetley verraten. Den und das andere, Miss."
„Das andere? Was?"
„Das mit der Ranch. Tetley will Sie gekannt haben. Es spielt keine Rolle."
„Was machen Sie hier?"
Bill zögert einen Moment, dann sagt er. „Ich war zu weit von der Bahnlinie abgekommen. Muss mich verirrt haben. Vielleicht wollte ich Sie auch wiedersehen, Kate."
Sie schnauft verächtlich durch die Nase und knurrt wie ein Pumaweibchen. „Wegen einem billigen Saloongirl macht sich kein Mann den weiten Weg durch die Berge. Sie sind durch die Berge gekommen. Überall an Ihrer Jacke hängt noch Alkalistaub."
„Ich suche vielleicht einen Job. Man hat mir gesagt, dass es in diesem Tal einen großen Rancher geben soll."
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