Название: Zwischen Bolschewismus und Bergpredigt
Автор: Norbert Ortgies
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783347106666
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Hauptgrund war seine erfolglose Gottsuche. „Wenn ich Gott hätte [unterstrichen von LB], könnte man mich nach Sizilien verbannen, er würde ja bei mir sein! Aber so weine ich vor Heimweh nach den Einzigen, die mich lieben, nach den Eltern und Geschwistern.“154
Nicht zuletzt belastete ihn, dass seine jahrelange Suche nach einer Partnerin immer aussichtsloser erschien.155 Passagen in seinem Tagebuch lassen vermuten, dass er sich nach dem Bruch mit seiner Mesumer Jugendfreundin noch einmal kurz und heftig verliebt hatte. Doch auch diese Beziehung, wenn sie denn nicht eine übersteigerte, rein geistige gewesen war, kann nicht sonderlich lange gedauert haben.156
In Königsberg fiel Bitter ein Büchlein des vormaligen russischen Revolutionärs und späteren Sowjetfunktionärs E. Jaroslavskij [Jaroslawski/Jaroslawsky] mit dem Titel „Wie Götter geboren werden, leben und sterben“ in die Hände. Nun konnte er es im russischsprachigen Original lesen.
Jaroslavskij, Emel'jan_Michajlovič. Karikatur, Urheber/in: o. Ang. Pseudonym: Ovod. ca. 1927. Jaroslavskij wird hier als Spürhund Stalins in den Machtkämpfen innerhalb der Kommunistischen Partei der Sowjetunion dargestellt.
Quelle: Staatliches Museum für politische Geschichte Russlands. Gemeinfrei. In: https://commons.wikimedia.org/w/index.php? curid=5828905/11.05.2020
Und was er dort fand, erschütterte sein enges Verhältnis zur KPD für immer: „Nun beginnt mein Glaube an den Bolschewismus doch wankend zu werden. Nicht an den Kommunismus! [unterstrichen von LB] Wie ich mich nun augenscheinlich überzeugen konnte, fordern sie von jedem Bolschewik Haß, Kampf gegen die Religion. In dem Buch von Jaroslawsky „Wie Götter geboren werden[,] leben und sterben“, stehen neben des Nachdenkens werten Behauptungen solch unsinnige und kindische Beweisführung[en], daß das ganze auf eine gemeine Übertölpelung der Proleten herauskommt.“157
Bitter betonte die Bedeutung von Liebe und Frieden als religiös fundierten Werten des Christentums. Auch dessen religiöses Brauchtum, gerade das bevorstehende „heilige“ Weihnachtsfest verkörpere eine positive menschliche Tradition. Angesichts dessen sei die Art religiöser Aufklärung wie sie die Bolschewiki, in Sonderheit Jaroslavskij, betrieben als nicht angemessen rundum abzulehnen. Der Bolschewismus laufe auf die primitive Floskel von Religion als Betrug am Volk hinaus.158 Als Christ sah er sich jedoch immer noch nicht.159
Ihn fror jetzt aber in der Gemeinschaft vermeintlich Gleichgesinnter, in den Zusammenkünften der Königsberger Kommunisten : „[… ] ich ersticke vor Langeweile. [… ] Stunden wurden verquatscht über geschäftliche, organisatorische Fragen, mit bewußter Langsamkeit, weil man nicht weiß, wie man die Zeit totschlagen soll. […] sie halten sich für wissend, untereinander. Lohnt sich also nicht zu diskutieren [unterstrichen von LB]. […] Sie haben ausgelernt. Es geht ihnen nur noch darum, anderen ihr Wissen beizubringen.“160
Wenn Ludwig Bitter sich über Einsamkeit beklagte, ob in Münster, Königsberg oder anderswo, dann meinte er die Einsamkeit in der Masse der Menschen, die ihn nicht so verstanden, wie er verstanden werden wollte. Umgekehrt blieben sie ihm ebenfalls oft fremd.161 Die Gefahr, aus solch einer Perspektive heraus wahnsinnig zu werden oder gar durch Selbstmord zu enden, war ihm durchaus bewusst.162
Tatsächlich aber war er gut vernetzt in einer sozial-politisch aktiven Schicht von Akademikern, die beileibe nicht alle der KPD anhingen.163 Auch die beiden Professoren am Königsberger „Institut für Russlandkunde“ pflegten eine erstaunliche Nähe zu ihren Eleven: Sie luden die angehenden Slawisten in ihre Privatwohnungen ein, wo diese ihren Erzählungen über Russland lauschten und russische Volkskunst bestaunten.164 Der Kontakt zur Vermieterin seiner Königsberger „Bude“ war herzlich.165
Noch in Königsberg hatte Bitter nach vielen Anfechtungen, die selbst später noch lange nicht aufhören sollten, zum Glauben an Christus als Sohn Gottes zurückgefunden. Den Anstoß hierzu gab seine Auseinandersetzung mit den Lehren des mittelalterlichen christlichen Philosophen Cusanus (Nikolaus von Kues), dessen Lektüre er als gewinnbringend empfand und akzeptierte.166
Studierendenausweis der Universität Königsberg für Ludwig Bitter, 1930 (Montage von Teilen der Vorder- und Rückseite).
Quelle: NLB
Cusanus beweise überzeugend die Existenz Gottes, an die er – Bitter – ohnehin immer geglaubt habe. Weiterhin beweise er die Geschichtlichkeit und die Göttlichkeit Jesu.167 Und das hieß für ihn nun trotz aller ökumenischen Kontakte gerade während des Studiums: „Ich bin wieder Katholik.“168
Zwischen dem 28. und 30. November 1930 erklärte er (anscheinend schriftlich) gegenüber Josef Steiner, einem der führenden Köpfe der KPD Münsters169, seinen Austritt aus ihren Reihen170, blieb aber bis Ende März 1931 zur Fortsetzung seines Studiums in Königsberg.171 Dort setzte er sich mit dem Jesuitenpater Matthias Dietz, dem Studentenseelsorger an der Universität, in Verbindung, der ihn wieder in die Gemeinschaft der katholischen Christen aufnahm.172
Die erneute Zugehörigkeit zur katholischen Kirche bedeutete aber nicht, auf Kritik an ihr als Organisation zu verzichten. Sein Notizbuch durchziehen viele kritische Sentenzen. Im großen und ganzen war sie ihm nicht lebendig genug, oft genug zu abgehoben von den Menschen, lebensfern: „Die Kirchen stehen verlassen. Um sie herum brandet das Leben, ohne sich um sie zu kümmern. Das ist das Schlimmste, nicht mehr beachtet zu werden.“173
Jedoch bejahte er offenkundig grundsätzlich die Notwendigkeit ihrer Existenz, so wie er sich für mehr Ökumene aussprach - etwa in der zwischen Protestanten und Katholiken strittigen Abendmahlsfrage. Nachhaltig geprägt war er von der im damaligen Katholizismus üblichen Leibfeindlichkeit. Immer wieder machten ihm die menschlichen Triebe zu schaffen, wenn er seinen Idealen von Schönheit und Reinheit nachhing.174
Den Austritt aus der KPD bewertete er zwar als endgültigen Abschied vom Bolschewismus175, nicht jedoch vom Kommunismus.176 „Revolution? Darf ich sie mitmachen? Wenn ich mich bis ins Letzte umkrempele, dann finde ich da einen Pazifismus, der keine Kompromisse gestattet. Enteignung? Kann ich mittragen. […] Mein klarer Weg wird der: Vom religiös-kommunistischen Standpunkt aus mich mit meinem ganzen Leben für das Proletariat und den Weltfrieden aufzuopfern ohne Gewalt! Allein durch die Tat des [unleserlich] und Predigt.“177
Wie nah sich Ludwig Bitter und Hugo Bendiek, der der Politik zeitlebens fernstand, doch waren, zeigt ein vergleichender Blick auf Bendieks Lebens- und Bildungsweg nach dem Abitur. Bendiek hatte das Heil in der Philosophie, Bitter im Kommunismus bzw. Sozialismus gesucht. Beiden reichten deren Antworten auf ihre Fragen an das Leben nicht aus. Deshalb gerieten sie mehr als einmal in den Strudel einer anhaltenden Lebenskrise. Erst durch die erneute Hinwendung zum christlichen Glauben gelangten sie nach und nach an das rettende Ufer. Auf dem Höhepunkt seiner Königsberger Krise, die mit dem Austritt aus der KPD nicht einfach endete, erwog Bitter ernsthaft, katholischer Priester zu werden.178
Bendieks Schilderung seiner Bekehrung klingt ähnlich dramatisch wie Bitters Königsberger Tagebuch: „Ich brach zusammen und stammelte das Glaubensbekenntnis. Das war am 24. Juni 1932.“179 Es sollte noch gut zwei Jahre dauern, bis Hugo Bendiek unter dem СКАЧАТЬ