Название: Strategie als Beruf
Автор: Maximilian Terhalle
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783828874107
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12 Dies allein sollte zu denken geben, wenn man sich vergegenwärtigt, dass kein deutscher Kanzler, inklusive Otto von Bismarcks, Clausewitz je in die Hand genommen hat.
13 Hillgruber (1965, S. 20) arbeitet diese Dynamiken gut heraus: „[Hitlers] Entscheidungen entsprachen nur zum Teil unmittelbar seinen großen politischen Intentionen; viele auch wesentliche Entscheidungen waren vielmehr mit Reaktionen auf Schritte der Gegenspieler verknüpft oder resultierten – meistens erzwungenermaßen – aus sachlichen Notwendigkeiten“.
14 Freedman (2017, S. xviii–xix) hat Onckens präzise Beobachtung zur Verbindung von Gegenwart und Zukunft folgendermassen bestätigt: „The reason that the future is difficult to predict is that it depends on choices that have yet to be made […] in circumstances that remain uncertain. We ask questions about the future to inform choices, not to succumb to fatalism. […] reminder that history is made by people who do not know what is going to happen next. Many developments that were awaited, either fearfully or eagerly, never happened. Those things that did happen were sometimes seen to be inevitable in retrospect but they were rarely identified as inevitable in prospect.“
15 Die jüngste Forschung zur Methodik der Strategischen Vorausschau vernachlässigt drei Dinge: Indem sie exklusiv auf „längerfristige Vorhersagen“ für die „nächsten zehn Jahre“ fokussiert, übersieht sie das inhärente Spannungsverhältnis zwischen langfristiger Strategieplanung und kurzfristiger Strategieumsetzung (Klüfers et al. 2017, S. 53). Indem sie Voraussagen durch einen „bestimmten Fokus auf einen Teilaspekt [der] Zukunft“ ausrichtet, übergeht sie die zentralen, klassisch realistischen Parameter, die bei Thukydides und Morgenthau in diesem Zusammenhang bereits genannt wurden (Klüfers et al. 2017, S. 54). Indem sie präventive, präemptive und reaktive Handlungsempfehlungen unterscheidet, sagt sie wenig darüber, wann genau und wie diese umgesetzt werden sollen (Klüfers et al. 2017, S. 63). Zuletzt: Indem strategische Vorschauen nur mehr „multiple, grundsätzliche unterschiedliche Szenarios“ aufzeigen, versäumen sie, ihren strategischen Mehrwert explizit zu machen (Klüfers et al. 2017, S. 66). Das wiederum hängt nicht unwesentlich mit dem Problem zusammen, dass sie das Attribut strategisch schlicht als langfristig definieren. – Klassische Gegenargumente zum Thema Vorhersehbarkeit finden sich bereits bei Hans Morgenthau (1947) und Philip E. Tetlock (2005).
16 Das System 1 von Donald Trump ist gegenwärtig am überzeugendsten aufgearbeitet von Charlie Laderman und Brendan Simms (2017). System 1 als historisch angewendetes Konzept ist gut aufgearbeitet bei Steven Casey und Jonathan Wright (2008). Zur angrenzenden Debatte in der Theorie der Internationalen Beziehungen (IB), siehe das International Organization-Sonderheft (Hafner-Burton et al. 2017). – Klassiker aus der historisch arbeitenden IB-Theorie, die zu den ersten bei der systematischen Anwendung psychologischer Theorien gehörten und ihre Erkenntnisse seitdem überarbeitet haben, sind Yuen Foong Khong (1992) und Robert Jervis (2017).
17 Zum Widerspruch zwischen Freedman und Grays (1999, S. 23–43) 17 Faktoren in diesem Zusammenhang, die der Stratege in Betracht ziehen soll, siehe Freedman (2013, S. 237–44).
18 Wolfgang Schäuble hat kürzlich noch einmal in diese Richtung argumentiert, als er betonte, ein Minister müsse nicht der „größte Fachmann“ sein, sondern schlicht „politisch führen können“ (FAS Exklusiv 2017).
3
Handlungsspielräume – Im Westen
nichts Neues? Eine strategische Vision
transatlantischer Macht
Einleitung
Der Westen steht vor zwei strategischen Herausforderungen: sich selbst und autoritären Großmächten. Für letztere ist Spaltung ein altbewährtes Mittel ihrer Politik.1 Der Westen kann die Wucht dieser Spaltungsbemühungen freilich noch verstärken, indem er für interne Probleme Lösungen wählt, die seinen Zusammenhalt schwächen. Die Idee strategischer Autonomie mitsamt einer europäischen Armee, wie sie gegenwärtig recht freihändig von der deutschen und französischen Führung feilgeboten wird, ist solch eine reflexhafte Lösung (Macron und Merkel, zit. n. de la Baume und Herzenhorn 2018).2 Dass die Vormacht des Westens solchen unbedachten Lösungen durch ihr Auftreten Vorschub leistet, ist eine (nicht zuletzt historische) Tatsache. Und dass angesichts Amerikas relativem Desinteresse an Europa für einige die Implikation lauten wird, die Nähe zu Russland zu suchen, ist nicht unwahrscheinlich (Schake 2018; Schulz 2010, S. 359).
Es ist deshalb dringend notwendig, wesentlich intensiver über die Natur der innerwestlichen, strategischen Herausforderungen nachzudenken. Denn die deutsche Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel umgeht bisher tunlichst den Komplex the Donald, getrieben von der Furcht, innenpolitisch für politische Nähe zur US-Regierung kritisiert zu werden. Es gleicht dabei der Quadratur des (transatlantischen) Kreises, den Versuch zu unternehmen, den 500-Kilo-Gorilla im Zimmer zu übersehen. Ohne strategisch ausgerichtete Analyserahmen grenzt dies gleichsam an Arbeitsverweigerung und verleitet zu den genannten unbedachten Lösungen. Zu lange, so scheint es, hat sich bei vielen die Annahme erhalten, amerikanische Außenpolitik könne ohne den US-Präsidenten gedacht und analysiert werden. Das Bias, das in dem Glauben besteht, dass die sogenannten Erwachsenen im Raum, mithin die Generäle John F. Kelly, Herbert R. McMaster sowie James N. Mattis, Donald Trump zähmen könnten, ist durch die Entlassung von allen drei längst als erstaunlich naiv enttarnt worden (Terhalle 2017). Im Grunde zeigt ja auch der höchst undeutsche Verlass auf politische Militärs, wie wenig Energie der obamaverträumte Regierungsapparat darauf verwendet hat, Amerikas politische Führung seit 2017 ernst zu nehmen und sie nicht nur als Moment des erhofften schnellen Übergangs zu betrachten. Vor allem aber hat es Europa versäumt, Trumps Amerika als strategische Aufgabe zu betrachten.
Es ist in diesem Zusammenhang eine der bemerkenswertesten Nuancen deutscher Debattenkultur, dass der Doyen strategischen Denkens, Henry Kissinger, hierzulande jederzeit eine zentrale Rolle bei staatlichen Anlässen oder high-level Vortragsveranstaltungen einzunehmen vermag, die Kategorien seines Denkens der letzten 60 Jahre aber weitestgehend unverstanden geblieben sind.3 Dabei ist er es 2018 (erneut) gewesen, der mit kaltem Blick für machtpolitische Ungleichgewichte aufgezeigt hat, was die Konsequenz wäre, würde sich Europa tatsächlich ohne Amerika neu definieren wollen: Angesichts Chinas und Russlands, die ihren politischen, ökonomischen und militärischen Machtanspruch auf Westeuropa unmittelbar und mit ungezügeltem Nachdruck geltend machen würden, verkäme Europa zum „appendage of Eurasia“4 (Kissinger, zit. n. Financial Times 2018). An diesem Punkt ist der Kontinent noch nicht; auch hat Kissinger keinen wesentlichen Einfluss auf Trump. Aber der ehemalige US-Außenminister hat damit bereits das Dunkel ausgeleuchtet, das sich aus unbedacht formulierten Lösungen und dem ihnen vorausgegangenen Mangel an Auseinandersetzung mit dem Thema Amerika unter Trump ergibt.5
Dabei hätte Kissinger gleichsam erleichternd hinzufügen können, dass Amerika Europa aus vier Gründen strategisch braucht. Als weltweit operierende Seemacht müssen die USA den Atlantik als freien Bewegungsraum nutzen können, was den Zugang zu alliierten Gegenküsten erfordert. Weiterhin bedarf es zumal Ramstein als zentrale Machtprojektionsbasis für militärische Zwecke im Mittleren Osten und darüber hinaus. Auch hat Amerikas Wirtschaft circa 600 Mrd. US-$ an Investitionen in Europa angelegt, die kein US-Präsident vernachlässigen kann (und wird). Und zuletzt sieht auch Trump die USA als Teil der freien Welt; unabhängig von seinem unkonventionellen Verständnis von Demokratie und Rechtsstaat СКАЧАТЬ