Название: Tägliches Befremden
Автор: Reingard Dirscherl
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Themen
isbn: 9783907126349
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Vor ihr lag das Meer, Dariya, weit, aber nicht breit. Es unterspülte eine Pfahlbauhütte, die mit Schilf bedeckt und auf mehrere Pfosten gestellt, herausragte. In der Hütte hingen einige Männer auf breiten Kissen herum, schlürften Tee und lüfteten ihre Füße. Ya Ali, ya Hossein, … ya Dari! Olivia kehrte das Meer einfach um, indem sie die beiden Silben des Wortes vertauschte, und reihte es ein unter all die männlichen Propheten. Dieser Akt weitete einen Moment lang ihr Herz. Er grenzte fast schon an Götzendienst.
Rechts erstreckte sich eingezäunt der Männerstrand, links, von grün-weiß-rot gestreiften Plastikplanen abgeschirmt, derjenige für Frauen. Da trennten sich ihre Wege. Er nahm den Jungen an der Hand, sie das Mädchen.
Nachdem sie die Verschalung passiert hatten, hinter der eine zugeknöpfte Frau in Schwarz mit dicken Brillengläsern sie darauf aufmerksam gemacht hatte, dass Durbin (Fotoapparat) verboten war, erblickte sie das abgegrenzte Quadrat. Ein verschmutztes Stück Sand – der Strand, und ein ebenso viereckiges, durch ein Seil gesichertes Stück Wasser. In ihm plantschten weißhäutige Frauen mit ihren Kindern. Sie zappelten in der trüben Flüssigkeit wie gefangene Fische im Kutter.
Im Sand ruhten ein paar Alte, den geblümten Tschador des Nordens locker um sich gehüllt, und stützten den Kopf auf den angewinkelten Arm. Eine Ummauerung, wo sich ein Mädchen im Dunkeln die Haare wusch, diente als Dusche.
Olivia zog Mantel und Hose aus, befreite sich vom Kopftuch und begab sich ins Wasser. «Durbin verboten», hatte die Wächterin gezischt und auf die Kamera gezeigt. Das Wort bekam seine ursprüngliche Bedeutung zurück, die Weitsicht heißt. Was sollte Olivia hier, wo es bloß Schranken gab, mit Weitsicht schon anfangen? Dort wo das Tau gespannt war, an dessen Überqueren die Badenden mit einem schrillen Pfiff des weiblichen Wachpersonals gehindert wurden, reichte ihr das Wasser bis knapp über die Hüften. Kein Platz zum Schwimmen, kein Platz für nichts, ein Unort dachte sie. Doch die anderen Frauen und Kinder lachten und freuten sich beim Spiel im seichten Tümpel.
Hinter der willkürlichen Grenze breitete sich ein Meer aus. Ya Dariya! Olivia wollte es umarmen. Sie wollte sich vor ihm niederwerfen, doch es, oder besser sie, denn das Meer konnte nur weiblich sein, kümmerte sich nicht darum, ob ein menschliches Wesen Dariya anbetete. Die Besucherin drehte sich um und kehrte an den unwirtlichen Strand zurück, wo sie sich ankleidete.
Das abgestandene Wasser, in das sie die Beine getaucht hatte, hatte den Geruch von verendenden Muscheln angenommen. Hinter der schwarzen Sonnenbrille fanden ihre Augen Trost. Oder war es eher so, dass die Sonnenbrille die anderen vor ihren ätzenden Blicken bewahrte? Es war egal. Das Mädchen stapfte durch den Sand hinter ihr her und schwieg.
Im Haus drehte Olivia den Kaltwasserhahn auf und stellte sich unter die Dusche. Das Wasser war lauwarm. Während der Strahl über sie rieselte, glaubte sie die Erklärung dafür gefunden zu haben, warum die Menschen in diesem Land keine Gelegenheit verpassten, sich bei gesellschaftlichen Anlässen etwas in den Mund zu stopfen. Sie verschluckte ihren Zorn und wickelte das zitronengelbe Badetuch um den nassen Körper. Mit tropfenden Haaren stand sie in der Küche, von wo aus sie in der Ferne das Kaspische Meer sehen konnte. Reflexartig griff sie sich eine Aprikose und biss in das reife Fruchtfleisch. Der aromatische Saft weitete die Mundhöhle. Gierig verschlang sie eine violett glänzende Dattel nach der anderen. Denn nur im Essen, das glaubte sie herausgefunden zu haben, konnte ihr Körper es sich erlauben, die Fassung zu verlieren und sich lustvoll und für alle sichtbar auszudehnen.
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