Название: Retromania
Автор: Simon Reynolds
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783955756086
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REUNIONS ZAHLEN SICH AUS
Während die 60er und 70er unsere Fantasie fest im Griff haben, scheint die Musealisierung der Musik von selbst fortzuschreiten, wenn jedes vergangene Jahrzehnt in die Popgeschichte eingemeindet wird. Es mag sein, dass das British Music Experience die 90er und 2000er sehr stiefmütterlich behandelt und bei Auktionen von Memorabilia nur Punk und der frühe Hip Hop Geld bringen, Dokumentationen wie Live Forever (über Britpop) oder Ausstellungen wie ArtCore beweisen aber, dass jede Generation, wenn sie älter wird, ihre musikalische Jugend mythologisiert und sich selbst würdig erinnert sehen will.
Die 90er-Nostalgie macht sich auch in einem anderen Bereich bemerkbar: den Reunions und Nostalgie-Touren. Die Wiedervereinigung von Rage Against the Machine nach einer siebenjährigen Pause, um beim Coachella-Festival in Südkalifornien als Headliner aufzutreten, ermöglichte es den Veranstaltern, ihre teuren Tickets (249 Dollar für drei Tage) in Rekordzeit abzusetzen. Blur, The Pixies, Dinosaur Jr., My Bloody Valentine, Pavement und Smashing Pumpkins sind nur einige der größeren Alternative-Rock- und Shoegaze-Bands, die auf die Bühne zurückkehrten (obwohl man den Smashing Pumpkins und Dinosaur Jr. zugestehen muss, komplett neue Alben aufgenommen zu haben und dort weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten, statt nur die College-Rock-/Grunge-Nostalgie auszubeuten).
Wenn Alternative-Bands sich wiedervereinigen und auf Tour gehen, gibt es ein gegenseitiges Einverständnis zwischen den Musikern und dem Publikum, von dem beide profitieren. Das alternde Publikum bekommt Stabilität geboten – sie wissen, wie die Musik klingen wird – und die Chance, ihre Jugend wieder aufleben zu lassen. Die Band kann sich an ihrem Status als Legende freuen und wieder mit den Fans in Kontakt treten. Sie verdienen besser als zu der Zeit, als ihre Mitglieder zu Legenden wurden, die Tickets sind viel teurer, ohne dass die Gefahr bestünde, das Publikum zu vergraulen, das ja nicht mehr aus College-Studenten und Slackern besteht, sondern aus Berufstätigen mittleren Alters, und sie können viel komfortabler touren als zu der Zeit, in der sie mit einem Van umherfuhren.
Reformierte Alternative-Bands aus den späten 80ern und den 90ern gehören so sehr zum Inventar von Rock-Festivals, dass der Kritiker Anwyn Crawford die Wiederkehr als den Indie-Rock-Kulturkreislauf tituliert hat. Aber die Sache geht mit dem Boom des 90er-Techno-Rave-Zirkus, also der Rückkehr dieser semi-rockigen Dance-Acts (man denke an Orbital, Leftfield, Underworld, The Orb oder The Chemical Brothers), die ihr Set live spielen und eine gute Show abliefern, weit über Indie hinaus.
Pioniere der Bewahrung des Indie-Rock-Erbes sind ATP, die Veranstalter der erfolgreichen All-Tomorrow’s-Parties-Festivals, die in Großbritannien losgingen und sich schnell auf die USA und darüber hinaus ausgebreitet haben. Von Anfang an wurden sie von renommierten Musikern (Portishead, Stephen Malkmus, Sonic Youth) und gelegentlich auch von berühmten Nicht-Musikern (Simpsons-Schöpfer Matt Groening, Jim Jarmusch) kuratiert. Und von Anfang an fanden sich im Line-up alte Bands, die wieder aus dem Ruhestand zurückkehrten. Als Nick Cave die Auswahl für das erste ATP in Australien traf, trieb er eine Menge Bands auf, die, wie Crawford betont, »aus seiner anrüchigen Jugendzeit stammten: Laughing Clowns, The Saints, Robert Forster, Primitive Calculators sowie der verstorbene und verehrte Roland S. Howard [der mit Cave zusammen bei The Birthday Party gespielt hatte, Anm. d. Autors].«
Ich traf den ATP-Gründer Barry Hogan, als er in Monticello im Bundesstaat New York die Fortsetzung ihres 2008er-Spektakels im Kutcher’s Country Club organisierte, an einem familienfreundlichen Urlaubsort in den Catskills, ähnlich den Ferienorten, an denen ATP einige ihrer Festivals in Großbritannien veranstaltet hatten. Diese erste Veranstaltung in Upstate New York war von My Bloody Valentine kuratiert worden, die auch selbst dort auftraten und eine extrem erfolgreiche Reunion-Tour in Amerika ablieferten, bei der sie im Wesentlichen ihre letzte US-Tour von 1992 wiederholten – die gleichen Songs und das gleiche ohrenbetäubende und schwindelerregende Lärmgewitter bei »You Made Me Realise« zum Abschluss ihres Sets. Hogan verriet mir, dass »es für alle Beteiligten ein lukratives Geschäft war, MBV mit ins Boot zu holen«. Als ich ihn fragte, ob Reunion-Touren ein wesentlicher Bestandteil des Veranstaltungsgeschäfts geworden seien, antwortete Hogan, dass er sich zwar nicht auf Zahlen stützen könne, aber dieses Reunion-Ding für signifikant halte: »Mir kommt es so vor, als habe jeder Veranstalter in seinem Jahresprogramm immer ein paar Comeback-Touren.«
Weil die Plattenindustrie in den 2000ern nicht genug hochkarätige Künstler hervorgebracht hat, verlasse sich die Konzertindustrie lieber auf alte Legenden, so das Wall Street Journal. Gleichzeitig haben die ehemaligen Mitglieder dieser aufgelösten legendären Bands als Solokünstler selten vergleichbaren Erfolg und daher einen finanziellen Anreiz, sich wieder zu versöhnen und gemeinsam auf Tour zu gehen. Aber selbst Bands, um die sich nie irgendjemand einen Dreck geschert hat, reformieren sich. Etwa Mudcrutch, Tom Pettys erste Band, die nur zwei Singles veröffentlichte und sich 1975 aufgelöst hat. Sie fanden sich 2008 wieder zusammen, um zu touren und endlich das Debütalbum, Mudcrutch, aufzunehmen, auf dem sich eine Mischung alter und neuer Songs findet.
Der Pulk alter Rocker, die Oldies-Sets spielen, angefangen bei Superstars wie Police oder den Eagles bis hin zu Kultgruppen (Pixies, Swervedriver) hat diejenigen hart getroffen, für die Pop und Jugendkultur eins sind. John Strausbaugh hat ein ganzes Buch geschrieben, Til You Drop: The Decline from Rebellion to Nostalgia, in dem er gegen die Faltenbildung des Rock wettert. Andere sehen das Problem nicht im fortschreitenden Alter der Bands, sondern darin, dass der Nostalgie-Markt es den Bands nicht erlaubt, sich von der Musik ihrer Jugend zu emanzipieren. Der Musiker und Kritiker Momus flucht über die »Museumifizierung« des Pop und sieht Parallelen zur klassischen Musik, die ein bestimmtes Repertoire »anerkannter Meisterwerke« endlos neu interpretiert. Andere haben genau diese Analogie bemüht, um die Kanonisierung des Rock zu verteidigen. Wenn die öffentliche Sendeanstalt ihr Musikprogramm zusammenstellt, das ein Babyboomer-Publikum ansprechen soll, um damit Werbeeinnahmen zu erzielen (Blind Faith 1969 live im Hyde Park, ein Tributkonzert für Roy Orbison mit Bewunderern wie Elvis Costello, Tom Waits, Bruce Springsteen und k.d. lang), schwärmt die Moderatorin Laura Sevigny: »Wir wollen sicherstellen, weiterhin ein Archiv der amerikanischen Kultur zu sein. Das ist die neue klassische Musik unserer Generation. Das ist Rock’n’Roll und wir wollen sichergehen, dass er im öffentlichen Fernsehen erhalten bleibt.« Ähnlich verteidigte auch Ben Ratliff, Musikkritiker der New York Times, den Boom von Rock-Reunions und verglich ihn mit der Art, wie Jazz würdevoll altert: Seit Mitte der 70er wurde Jazz zu einer »Kultur der permanenten Wiederholung und des endlosen Tributs«, in der »echte Reunions kaum wahrgenommen wurden«, während »ein gewaltiger Prozentsatz der Musik sich auf die großen Momente der Vergangenheit bezieht.« Er führte weiter aus, dass dies den Jazz nicht daran gehindert habe, »fantastisch zu sein, sich sogar zu transformieren«. Er behauptete, dass Rockbands oft erst mit der Zeit besser würden und heute von der viel besseren Soundtechnik profitieren könnten, die ihnen zur Verfügung steht.
Das Phänomen der »ganzen Alben« war es, das Momus im Besonderen auf die Analogie mit dem klassischen Repertoire brachte: Eine Band spielt live ihr bekanntestes Album in der originalen Reihenfolge von Anfang bis Ende durch. Keiner weiß mehr, wer zuerst mit diesem Trick die Fans zufriedenstellte. Es könnten Cheap Trick gewesen sein, die die 1998er-Reissues ihrer ersten vier Alben mit einer viertägigen Tour durch ausgewählte Städte promoteten, wo sie jeden Abend je ein ganzes Album spielten. Bei ihrem erfolgreichsten Album, Live at Budokan von 1979, imitierte der Sänger Robin Zander sogar seine Ansagen, da die absichtlich gestelzte Sprechweise – langsam und deutlich, damit das japanische Publikum ihn verstehen konnte – bei den Fans besonders gut ankam.
Was für Cheap Trick ein einmaliger Promogag gewesen war, erzeugte in der zweiten Hälfte der 2000er eine richtige Industrie, ganz vorne All Tomorrow’s Parties mit ihrer »Don’t Look Back«-Reihe. Angefangen hatte es 2005, als Bands wie Belle & Sebastian, The Stooges und Mudhoney, um nur ein paar zu nennen, ihre berühmtesten Alben live spielten. СКАЧАТЬ