Название: Retromania
Автор: Simon Reynolds
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783955756086
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Als ich an einem Samstag um die Mittagszeit dort vorbeischaue, ist es dort allerdings sehr ruhig, während es auf dem Portobello-Vintage-Klamotten-Markt gegenüber sehr lebendig zugeht. Und diese gemütlich wirkende Sammlung von Souvenirs und Erinnerungsstücken, die Überbleibsel eines Lebens, das im Zeichen des Rock’n’Roll stand, mutet nicht wie eine Provokation gegenüber irgendwas Bestimmtem an. Artefakte, die etwas mit The Clash oder Punk zu tun haben (verstaubte Verstärker, ein Watkins Copicat-Effektgerät, eine handgemalte Tourkarte von 1982 mit dem Namen Rat Patrol Over South Asia & Australia), stehen dicht gedrängt neben Krimskrams, wie man ihn auch auf dem Flohmarkt auf der anderen Straßenseite findet: Altmodische Kameras, Radios und Super-8-Equipment, ein Spike-Milligan-Jahrbuch, ein Diana-Dors-Klappcover. Entsprechend der Begeisterung von The Clash für Militarismus sind die Wände mit Aquarellen im Stile des 19. Jahrhunderts bedeckt, die Schlachtszenen und Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg zeigen, etwa das Hissen der amerikanischen Flagge durch US-Marines auf Iwo Jima.
Abgesehen von ein paar seltsamen Youngstern sind die Besucher hauptsächlich Veteranen der Punk-Kriege. Da ist ein Paar mittleren Alters, die Frau ist mollig und hat eine lila Strähne im Haar, der Mann trägt ein Pistols-T-Shirt und einen ungepflegten Iro. Und es gibt eine scheinbar endlose Zahl von Typen mit genau den cowboyartigen Hüten, die auch The Clash und Big Audio Dynamite vorzugsweise getragen hatten. Einer von diesen Ewiggestrigen mit so einem bescheuerten Hut – ein Clash-Fan aus Manchester – setzt sich neben mich, und obwohl noch nicht einmal Mittag, ist er schon ziemlich betrunken und drängt mir Geschichten auf, wie er bei einem Clash-Konzert auf die Bühne gestiegen sei und eingeladen wurde, die Akkorde A, E und G zu spielen. Schließlich entschuldige ich mich und mache mich aus dem Staub, flüchte in einen Seitenraum, der eine Höhle aus Pop-Zeitschriften ist: Ausgaben von Crawdaddy! und Trouser Press, CREEM und ZigZag sind in durchsichtige Hüllen gestopft und sorgsam an die Wände geheftet.
Durch das ganze Büro tönt in moderater Lautstärke ein Musikstream im Stil von Radio Clash mit den Lieblingsliedern von Mick Jones. Es läuft »Memo from Turner«, ein Mick-Jagger-Song vom Performance-Soundtrack. Mir kommt sofort die Clash-Wir-leben-im-Jetzt-Hymne »1977« mit ihrem Refrain »No Elvis, Beatles or the Rolling Stones in 1977« in den Sinn. Dann fällt mir das signierte Beatles-Poster von der Royal Command Perfomance im London Palladium 1963 auf, das gerahmte Foto des jungen Jagger und des jungen Richards. Aber The Clash haben sich schon vor langer Zeit selbst in den Rockkanon gespielt – bereits mit London Calling, das Punk zurück zur Vielfalt des Rock’n’Roll und Americana brachte, und das vom Rolling Stone als bestes Album der 80er gewürdigt wurde.
Während ich die Rock’n’Roll Public Library abgrase, denke ich daran zurück, wie ich Mick Jones 2003 im TV gesehen habe, als The Clash in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen wurden. Letztere, von Jann Wenner vom Rolling Stone mitbegründet, steht nicht nur für eine Preisverleihung, sondern auch für das erste Rockmuseum der Welt: The Rock and Roll Hall of Fame and Museum, das 1995 in Cleveland eröffnet worden ist. Bei der Ehrung 2003 sah Mick Jones – kahl werdend, in schwarzem Anzug und mit Krawatte – nicht aus wie ein Rock’n’Roll-Soldat, der eine Medaille erhält, sondern vielmehr wie ein gebückter Angestellter, der zum Podium schlurft, um nach 45 Jahren treuem Dienst für die Firma seinen Pensionsscheck abzuholen. Die demütige Zustimmung von The Clash zu ihrer Eingemeindung in das Rock-Pantheon kontrastiert wunderbar mit der Unnachgiebigkeit der Sex Pistols, die ihre Einladung zu der Ehrung 2006 brüsk zurückgewiesen hatten. (Das hinderte die Hall of Fame natürlich nicht daran, sie trotzdem aufzunehmen.) Der unverschämte und hingekritzelte Antwortbrief zauberte ein Lächeln auf die faltigen Gesichter alternder Punks auf der ganzen Welt:
»Neben den Sex Pistols ist Rock’n’Roll und die Hall Of Fame nichts als ein Pissfleck. Euer Museum. Urin im Wein. Wir kommen nicht. Wir machen uns für euch nicht zum Affen. Wenn ihr für uns gestimmt habt, habt ihr euch hoffentlich eure Gründe notiert. Als Jurymitglieder seid ihr anonym, aber ihr seid trotzdem Teil der Musikindustrie. Wir kommen nicht. Ihr hört uns nicht zu. Jenseits dieses Scheißestroms gibt es eine wirkliche Sex Pistol.«
Es war eine Art seltsame Trotzhandlung. Schließlich hatte die Gruppe ihren Beitrag zur Retro-Kultur bereits geleistet, als sie sich 1996 für die sechsmonatige Filthy-Lucre-Tour reformiert hatte, und nur ein Jahr nachdem sie der Hall of Fame den Mittelfinger gezeigt hatten, machten sie die eigene Legende mit einer Reihe von Konzerten 2007 und 2008 wieder zu Geld. Allerdings konnten diese Reunions – Never Mind the Bollocks als eine reisende Wanderausstellung – als erfrischend zynisch, ja sogar als eine Erweiterung der ursprünglichen Entmystifizierung der Musikindustrie durch die Pistols gesehen werden: Die Parole war nicht mehr »Aus Chaos Geld machen«, sondern aus der Nostalgie für das Chaos Geld machen. Wenn sie bei der Ehrung durch die Hall of Fame aufgetaucht wären, hätte das bedeutet, dass die Gruppe sich wirklich jede verbliebene Kante abgestoßen hätte. In einem Interview mit dem National Public Radio verkündete Pistols-Gitarrist Steve Jones: »Sobald man in ein Museum gesteckt wird, ist es aus mit Rock’n’Roll.«
Wenn Bands 25 Jahre nach ihrer Gründung die Berechtigung erlangt haben, in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen zu werden, ist das zu guter Letzt das Übergangsritual ins Rock-Jenseits. In manchen Fällen ist der Künstler tatsächlich tot; in fast allen anderen Fällen ist die Kreativität des Musikers bereits vor einiger Zeit erloschen. Adorno hat als erster auf die Ähnlichkeit der Wörter »Museum« und »Mausoleum« aufmerksam gemacht. Abgesehen von der phonetischen Assoziation gibt es noch eine tiefere Nähe: Museen bezeichnen den Friedhof für »Gegenstände, zu denen der Betrachter sich nicht mehr lebendig verhält und die selber absterben.« Die Hard-Rock-Cafe-Kette (die in den 70ern begann, Erinnerungsstücke aus der Rockgeschichte wie signierte Gitarren als Dekoration zu nutzen) nannte ihr eigenes Museum in Orlando »Vault« [A. d. Ü.: Gruft]. Und »Wolfgang’s Vault« lautet auch der etwas gruselige Name des größten Musik-Fanartikel-Vertriebs der Welt, der aus einem riesigen unterirdischen Lager hervorging, in dem der berühmte Konzertveranstalter Bill Graham aus San Francisco (der eigentlich Wolfgang Grajonca hieß) sein Archiv mit Ton- und Videomitschnitten von Konzerten, Postern und verschiedensten Rock-Relikten aufbewahrte. Gruselig ist das deshalb, weil Graham/Grajonca 1991 starb und Wolfgang’s Vault an einen Grabhügel erinnert, wo der König mit all seinen Schätzen begraben liegt.
Bevor die Besucher in das Rock and Roll Hall of Fame and Museum Annex in New York eingelassen werden, müssen sie in einem kleinen Raum warten, der tatsächlich einem Mausoleum gleicht. Von der Decke bis zum Boden sind die Wände mit rechteckigen Plaketten bedeckt. Auf jeder davon wird eines Künstlers gedacht – und trägt jeweils dessen Namenszug –, der in die Hall of Fame aufgenommen wurde. Neben dem Eingang geht es los mit den ersten Rekruten Mitte der 80er – Carl Perkins und Clyde McPhatters – und die Ausstellung arbeitet sich dann langsam zu den zeitgenössischeren Künstlern, wie den Pretenders (die 2005 geehrt wurden) vor, die sich bei der Eingangstür zum eigentlichen Museum finden. Die Plaketten erinnern stark an die kleinen »Nischen« für Urnen, wie man sie aus manchen Grabgewölben kennt. Es läuft Musik, und bei jedem Song leuchtet die silberne Handschrift des entsprechenden Künstlers in orange oder violett, was gleichermaßen kitschig und unheimlich ist.
Das Museum in Cleveland setzt gegenüber seiner Filiale sogar noch eins drauf. Als Fusion aus Museum und Mausoleum stellt es die irdischen Überreste von Alan Freed aus, dem DJ, der den Begriff »Rock’n’Roll« bekannt gemacht und 1952 mit dem Moondog Coronation Ball in Cleveland das erste Rock’n’Roll-Festival organisiert hat. Jim Henke, der Chefkurator des Museums, erklärte, dass »wir mit Freeds Kindern bei der Auswahl der Ausstellung zusammengearbeitet haben, und sie eines Tages sagten: ›Passt auf, unser Vater ist in Upstate New York begraben, aber das ergibt überhaupt keinen Sinn. Wenn wir euch die Asche bringen würden, würdet ihr sie nehmen?‹ СКАЧАТЬ