Название: Retromania
Автор: Simon Reynolds
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783955756086
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Die phonografische Aufnahme ist so etwas wie ein philosophischer Skandal, da sie einen einzelnen Moment nimmt und ihn auf ewig konserviert; sie fährt in der Einbahnstraße der Zeit entgegen der Fahrtrichtung. In einem anderen Sinn ist das Problem der Popmusik, dass ihr Wesen auf das Ereignis ausgerichtet ist – Momente, die ganze Epochen bestimmen, wie Elvis Presleys Auftritt bei Ed Sullivan, die Ankunft der Beatles am JFK-Flughafen, die Hendrix-Darbietung von »The Star-Spangled Banner« in Woodstock oder wie die Sex Pistols in der Bill Grundy Show Schimpftiraden loslassen. Aber ausgerechnet das Medium, von dem Pop abhängt und durch das er verbreitet wird – Aufnahmen und Fernsehen – ermöglichen es, dass der Moment permanent verfügbar und das Subjekt endloser Wiederholung wird. Der Moment wird zum Monument.
NOSTALGIE ALS TRÄUMEREI VERSUS NOSTALGIE ALS RESTAURATION
Die Theoretikerin Svetlana Boym unterscheidet mit ihrer Dichotomie von der reflexiven Nostalgie versus restaurativen Nostalgie. Letztere reicht von einer griesgrämigen Ablehnung von allem Neumodischen und Progressiven bis hin zu hartnäckigen militanten Versuchen, die Uhr zurückzudrehen, um eine ältere Ordnung wiederherzustellen (die Bandbreite reicht hier von gegenwärtigen amerikanischen Auswüchsen wie der Tea-Party-Bewegung und Glenn Becks »Restoring Honor«-Kundgebung 2010 bis hin zu zahlreichen Ausprägungen wie theokratischem Fundamentalismus, Royalismus, Nativismus oder neo-faschistischen Bestrebungen für eine ethnisch gesäuberte Heimat etc.). Die restaurative Nostalgie präsentiert sich gerne prunkvoll (die Paraden der Oranier in Ulster), folkloristisch und romantisch-nationalistisch. Diese unterfüttern das kollektive Ego mit Geschichten über die ruhmreiche Vergangenheit, aber gleichzeitig nähren sie alte Wunden und Fehden (man denke an den uralten Unmut, der in den Nationen im ehemaligen Jugoslawien gärt).
Die reflektive Nostalgie dagegen ist persönlicher Natur, meidet die politische Arena gänzlich, um sich ganz der Träumerei hinzugeben, oder sie durch Kunst, Literatur und Film zu sublimieren. Sie ist weit davon entfernt, ein verlorenes, goldenes Zeitalter wiederherzustellen, sondern findet Vergnügen in der nebligen Ferne der Vergangenheit und kultiviert die bittersüßen Schmerzen der Vergänglichkeit. Die Gefahr der restaurativen Nostalgie liegt in ihrem Glauben, dass die verwundete »Ganzheit« des politischen Körpers geheilt werden kann. Aber die reflektive Nostalgie weiß tief drinnen, dass der Verlust unwiederbringlich ist: Die Zeit verwundet alle Ganzheit. In der Zeit zu existieren bedeutet, an einem endlosen Exil zu leiden, eine fortwährende Trennung von den wenigen wertvollen Momenten, die das Leben auf der Welt zur Heimat werden lassen.
Für den Begriffsrahmen des Pop ist Morrissey der oberste Poet der reflexiven Nostalgie (auch wenn Ray Davies ihm mit »Waterloo Sunset« und dem Herbst-Almanach englischer Schwermut, The Kinks Are the Village Green Preservation Society, starke Konkurrenz macht). Sowohl bei den Smiths als auch während seiner Solokarriere trauert Morrissey einem Ort und einer Zeit nach (das Manchester der 60er und 70er), in der er keine glückliche Stunde vergeudete [A. d. Ü.: Im Original Anspielung auf die Songzeile »I never stole a happy hour around here« aus dem Song »Late Night, Maudlin Street«]. Allerdings hat Morrissey ab und an auch die Grenze zur gefährlichen restaurativen Nostalgie überschritten, mit kontroversen Auftritten (als er sich auf einem Rock-Festival in den Union Jack eingehüllt hat), missverständlichen Songs (»The National Front Disco«) und unbedachten Äußerungen in Interviews (als er 2007 im NME mitteilte, dass das heutige Großbritannien kaum mehr als ein Land mit eigener Jugend erkennbar sei und das teilweise der Immigration zuschrieb).
Museen, Reunions, Rockdokus, Reenactments
Zu Beginn muss ich ein Geständnis ablegen: Mein Bauchgefühl sagt mir, dass Pop und Museen nicht zusammenpassen. Ich glaube nicht, dass irgendeine Musik im Museum funktioniert, einem Ort der Stille und Etikette. Museen sind in erster Linie visuell, auf die Ausstellung ausgerichtet und zur Betrachtung konzipiert. Das ausschlaggebende Element des Klangs fehlt entweder vollständig oder wird unterdrückt. Anders als bei Gemälden und Skulpturen kann man akustische Exponate nicht nebeneinander präsentieren; sie würden sich gegenseitig im Wege stehen. Daher findet man in Museen, die sich der Musik widmen, das ganze Zubehör (Instrumente und Bühnenoutfits, Poster und Verpackungen), aber nicht die Hauptsache selbst. Ephemera, aber nicht das Wesentliche. Zudem beißt sich das Museum – ein Lagerplatz für Kunstwerke, die die Zeit überdauerten – mit der lebendigen Energie von Pop und Rock. Ich halte es hier mit Nik Cohn: Er schrieb Ende der 60er aus Sorge über die künstlerischen Bestrebungen und die Seriosität des modernen Rock, dem eine Zukunft vor sitzendem Publikum, das »artig klatschte«, beschieden sei, das Buch Awopbopaloobopalopbamboom, das den »Superpop, die Lärm-Maschinerie und das Image, den Hype und das wunderbare und blitzartige Auftauchen des Rock’n’Roll« elegisch feiert. Bei Pop geht es um den Kick des Augenblicks; er lässt sich nicht in eine ständige Ausstellung zwängen.
Als ich an einem Wochentag im August 2009 in Richtung des British Music Experience wanderte, dem großen, neuen Rockmuseum in Großbritannien, dachte ich für einen Moment, dass sie vielleicht, nur vielleicht, die Sache doch richtig gemacht haben könnten. Das Museum befindet sich in Londons gigantischem O2-Komplex, und der Weg vom Vorplatz zu der silbernen blasenförmigen Kuppel führt an riesigen, aufgeblähten Fotografien vorbei, die Schlüsselereignisse der Popgeschichte zeigen: eingefrorene Momente der Ekstase und des Rausches von der Beatlemania und der Bay-City-Rollermania über wütende Punks und kreischende Durannies bis hin zu Metal-Monstern und Madchester-Ravern.
Meine größte Sorge in Museen ist immer Punk, dieser Riss durch die Rock-Historie, der das Alte in den Mülleimer der Geschichte stieß. Kann so ein apokalyptischer Bruch in das Ordnungssystem eines Archivs passen und trotzdem noch sein Wesen behalten, seine Radikalität? Eine Rollschuhdisco voller pubertierender Mädchen, die freudig umherhuschen und ein Paar übergroßer Aufstellfiguren von Jarvis Cocker und Dizzee Rascal weisen mir den richtigen Weg und ich gelange zur British Music Experience. Um einen ständigen Fluss von Besuchern aufrecht zu erhalten, werden diese in Intervallen eingelassen, also hängen wir in einem Wartezimmer herum, das auch als Museumsshop dient. Als wir reingelassen werden sollen, tönt aus den Boxen »Anarchy in the UK«. Genau richtig, um mein Unbehagen wieder zurückzuholen.
Bevor man in die Hauptausstellung gelangt, erklärt ein kurzer Einführungsfilm, wie man am meisten aus diesem British-Music-Experience-Erlebnis herausholt: »Wie im Rock’n’Roll gibt es hier keine Regeln«, aber es gibt eine Zeitachse, an der man sich orientieren könne, »falls man Lost-in-Music ist«. Als ich endlich in der eigentlichen Ausstellung angelangt bin, ist mein erster Eindruck, dass sie den Cyberspace imitieren soll. Im Gegensatz zu den hohen Decken und leeren Flächen typischer Museen, ist es in der British Music Experience schummerig und intim und in jeder Ecke flackern LED-Leuchten. Es gibt einen zentralen Raum, der von sogenannten Edge Zones umgeben ist, Räumen, die jeweils ein Stück britischer Rockgeschichte präsentieren СКАЧАТЬ