Название: Retromania
Автор: Simon Reynolds
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783955756086
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In den Köpfen vieler Leute ist Retro mit Hipstern verbunden, eine weitere Identität, die fast niemand freiwillig annimmt, auch wenn er rein äußerlich perfekt ins Profil passt. Die letzten paar Jahre der 2000er waren geprägt von einem krampfhaften Hipsterhass, mit einer Flut von Magazinen, die das Hipstertum als Pseudo-Boheme kritisierten. Auf diese Artikel folgten Meta-Kritiken, die das Phänomen der Hipsterphobie untersuchten, die ausnahmslos alle herausstellten, dass niemand sich freiwillig als Hipster bezeichnen würde, und dass die Hipster-Hasser selbst für gewöhnlich sehr gut in das Bild vom Hipster passten. Diese Orgie einer von Hipstern inspirierten Debatte verlief parallel – ohne sich ganz damit zu überschneiden – zu dem journalistischen Subgenre, das fragt: »Was ist bloß aus der Innovation geworden?« Hier wurde Retro in einem vagen, alles umfassenden Sinne gebraucht und auf alles Altmodische und alle Weiterentwicklungen angewandt, wobei einige futuristische Fanatiker (ich selbst teilweise auch) so weit gingen, Retro als Totschlagargument gegen jeden Künstler zu gebrauchen, dessen Einflüsse und Vorläufer allzu offenkundig waren.
Offensichtlich ist es nicht per se Retro, wenn man Einflüsse hat. Ich stimme nicht völlig mit Norman Blake von Teenage Fanclub überein, der mir gegenüber mal meinte, dass »Rockmusik, die nicht wie etwas anderes klingt, immer schrecklich klingt.« Aber wie macht man denn ohne einen Ausgangspunkt Musik? Die meisten Musiker, Künstler und Schriftsteller lernen das, was sie machen, durch Nachahmung – zumindest anfangs. Gleichermaßen ist es nicht gleich Retro, wenn man sich musikalischer Traditionen bewusst ist. Ein gutes Beispiel ist die britische Folk-Szene. Die Bewegung setzte Ende des 19. Jahrhunderts als eine Art antiquarische und ethnologische Musikwissenschaft ein: Leute wie Cecil Sharp tingelten die britischen Inseln auf und ab, um Songs zu sammeln und Wachszylinder-Aufnahmen von alten Männern und Frauen zu machen, die für gewöhnlich die letzten lebenden Zeugen waren, die sich an die alten Balladen erinnerten. Aber dieses konservierende Projekt, bei dem die traditionelle britische Musik dokumentiert und später so originalgetreu wie möglich nachgespielt wurde, hat nichts mit Retro im modernen Sinne zu tun. Es handelte sich dabei um ein vollkommen ernsthaftes, politisch idealistisches Projekt. Folk wurde als die Musik des Volkes und damit automatisch als links betrachtet. Als die Szene der Liebhaber traditioneller Musik im Königreich wuchs, entstand nach und nach eine Kluft zwischen den Puristen und denen, die die Musik lebendig halten wollten, indem sie zeitgemäße Elemente aufnahmen. Letztere erlaubten sich Freiheiten im Umgang mit den Formen der Folkmusik, änderten die Instrumentierung oder spielten sie mit elektrischen Instrumenten, mischten nicht-heimische Einflüsse dazu und schrieben zu den Originalsongs zunehmend unkonventionelle und gegenkulturelle Texte.
Eliza Carthy wird in der jüngeren Generation der gegenwärtigen Folksänger als eine Leitfigur angesehen. Oberflächlich betrachtet ist ihr Werk konservativ: Sie führt im wahrsten Sinne des Wortes das Familienunternehmen (die Erneuerung der traditionellen britischen Musik) weiter, indem sie in die Fußstapfen ihrer Eltern, Norma Waterson und Martin Carthy, getreten ist. Aber sie setzt in ihrer Musik genauso Synthesizer ein wie akustische Instrumente, ihre Geige etwa, oder arbeitet mit Einflüssen aus Trip Hop und Jazz. Und sie nimmt bedenkenlos digital auf. Näher an Retro im strengeren Sinn ist die amerikanische Free-Folk-Bewegung (die manchmal auch als Freak Folk oder Weird Folk bezeichnet wird). Diese jungen Musikanten – Künstler wie Joanna Newsom, Devendra Banhart, MV & EE, Wooden Wand, Espers – verehren genau die Spät-60er- und Früh-70er-Blütezeit des britischen Folk, in der Martin Carthy und Norma Waterson sich ihren Namen gemacht haben, aber sie sind mehr auf die Freaks dieser Zeit fixiert, wie The Incredible String Band und Comus, oder obskure Künstlerinnen wie Vashti Bunyan. Die Free-Folk-Gruppen fetischisieren das Akustische und das Analoge: Sie nehmen große Mühen auf sich, um einen Vintage-Sound hinzubekommen und Instrumente aus dieser Zeit zu benutzen. Die Unterschiede liegen auch darin, wie sie sich selbst präsentieren sowie in der Aufmachung der Alben. Eliza Carthy ist dafür berühmt, auf der Bühne einen Nasenring und punkig lila oder blutrot gefärbte Haare zu tragen. Die Free-Folk-Troubadoure dagegen zeigen ihre Verehrung für das verlorene goldene Zeitalter durch wild zusammengewürfelte bunte Kleidung, langes wallendes Haar und Bärte. Das Artwork ihrer Alben ist oft ehrfurchtsvoll und voller Referenzen. Die Promofotos von Espers erinnern an die Waldumgebung, die The Incredible String Band auf ihren klassischen Alben in den 60ern bevorzugten; das Cover von Wooden Wand and the Sky High Bands Second Attention zitiert das kuschelnde Liebespaar auf einer Bergspitze auf dem Coverfoto von John und Beverly Martyns 70er-Album Stormbringer.
Während Eliza Carthy die Folkmusik aktualisiert hat, um ein zeitgenössisches Publikum anzusprechen, möchten die Freak-Folk-Bands die Vergangenheit in die Gegenwart hinein übersetzen. Folk liegt Carthy wortwörtlich im Blut, sie ist damit aufgewachsen; im Gegensatz dazu ist die Beziehung der Freak-Folk-Künstler zu ihren Vorbildern fast immer durch Aufnahmen aus einer viel früheren Epoche vermittelt, und der Abstand vergrößert sich auch noch, da sie ihren Fokus hauptsächlich auf den britischen Folk und nicht dessen amerikanische Pendants aus der gleichen Zeit richten. Sie zeigen null Interesse an zeitgenössischen Vertretern wie Carthy oder an den gegenwärtigen Aktivitäten der Veteranen aus der originalen Britfolk-Epoche der späten 60er / frühen 70er wie etwa Richard Thompson.
»Es handelt sich um Musik für Plattensammler«, sagte Byron Coley, ein Journalist und einer der Verteidiger der Free-Folk-Szene, der auch selbst Plattenhändler ist, gegenüber der Musikkritikerin Amanda Petrusich. Anders als Folkmusik, die als Tradition von Generation zu Generation weitergegeben und durch Unterricht oder das Zuhören bei Auftritten gelernt wird, ist Free Folk eine »fabelhafte Simulation«, die auf dem Anhören von Platten basiert. Coley: »Es geht dabei größtenteils um Typen, die alleine in ihren Zimmern sitzen und die Liner Notes studieren.« Einer der Säulenheiligen des Genres, der Gitarrist John Fahey, war ein obsessiver Plattensammler, der in späten Jahren das archivarische Reissue-Label Revenant – der Name bedeutet soviel wie Wiedergänger – gründete, auf dem er den ganzen primitiven Folk, Blues und Gospel wiederveröffentlichte, den er ausgegraben hatte.
Obwohl die Technik für Tonaufnahmen bereits im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, definierte es erst das 20. Jahrhundert und schuf in seinen zahlreichen Formen schließlich die Möglichkeiten für Retro. Audioaufnahmen und andere Formen der Dokumentation (Fotografie, Video) liefern nicht nur das Rohmaterial für Retro, sie erschaffen auch eine bestimmte Sensibilität. Artefakte lassen sich obsessiv vor- und vurückspulen, man kann konzentriert zuhören und sich so minutiös auf stilistische Details versteifen. »Das ist ein kompletter Paradigmenwechsel, es hat sich völlig in unsere Gehirne hineingefressen«, sagt Ariel Pink über den Umbruch von Musik, die als Partitur, und Musik, die als Album verkauft wird. »Das Aufnahme-Medium kristallisiert tatsächlich so etwas wie ein Ereignis heraus, das mehr ist als die Summe der Partitur. Das Gefühl des Augenblicks wird eingefangen. Das hat alles verändert – die Leute sind in der Lage, Erinnerungen wieder wachzurufen.« Über Alben zu grübeln, erlaubt es Sound-Fanatikern wie Pink, die spezifischen Qualitäten vergangener Produktionsstile und Gesangsformen zu isolieren und zu kopieren. So gibt es bei »Can’t Hear My Eyes« auf Before Today beispielsweise einen Wirbel auf der Tom-Tom, bei dem die Klangfarbe des Schlagzeugs, das Feeling einer bestimmen Struktur wie ein Zeitfenster in die Spät-70er-Epoche von Gerry Raffertys »Baker Street« und Fleetwood Macs Tusk wirkt. Pink beschreibt die Beziehung seiner Musik zur Vergangenheit des Pop so: »Ich bewahre etwas, das gestorben ist. Etwas, das ausgestorben ist. Und dabei schreie ich ›Oh Nein!!!‹ Das ist für mich als Musikliebhaber alles. Ich mache gerne Sachen, die ich mag. Und was ich mag ist etwas, das ich nicht höre.«
Der Einfluss von Pop war abhängig von Alben. Seine Qualität der Gegenwärtigkeit und die Art und Weise, wie er tief in das alltägliche Leben wirkte, rührte daher, dass Platten innerhalb der ungefähr gleichen Zeitspanne im Radio gespielt oder in den Läden СКАЧАТЬ