Название: Retromania
Автор: Simon Reynolds
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783955756086
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Die reaktionäre und die radikale Nostalgie eint die Unzufriedenheit mit der Gegenwart, worunter gemeinhin die Welt seit der industriellen Revolution, der Urbanisierung und dem Kapitalismus verstanden wird. Mit dem Beginn dieser neuen Epoche wurde die Zeit selbst in zunehmendem Maße nach der Taktung der Fabriken, der Büros und auch der Schulen, wo die Kinder für diese Arbeitsplätze ausgebildet werden, organisiert und nicht mehr nach dem natürlichen Lauf von Sonnenauf- und -untergang oder den Jahreszeiten. Ein Aspekt der Nostalgie ist auch die Sehnsucht nach einer Zeit vor der Zeit: die ständige Anwesenheit der Kindheit. Diese Vorstellung kann auch auf ganze vergangene Epochen ausgeweitet werden (wie z. B. die Faszination der viktorianischen Epoche für das Mittelalter), die für die Geschichte das Pendant zur Kindheit sind. Svetlana Boym, die Autorin von The Future of Nostalgia, untersucht, wie es überhaupt möglich ist, »sich nostalgisch nach einem vornostalgischen Zustand« zu sehnen. Und es geht mir auch so, dass, wenn ich wehmütig an die goldenen Zeiten meines Lebens denke, diese die völlige Versenkung in ein Jetzt gemeinsam haben: die Kindheit, Verliebtsein, oder Phasen, in denen ich vollständig in aktuelle Musik versunken war (als Teenager in Post-Punk und in meinen späten Zwanzigern in die frühe Rave-Szene).
Die Pop-Nostalgie wird da interessant, wo es um diese sonderbare Nostalgie für die wundervollen Tage des »Leben im Jetzt« geht, die man tatsächlich nicht erlebt hat. Sowohl Punk als auch der Rock’n’Roll der 50er evozieren Emotionen dieser Art, aber die Swinging Sixties stellen alles in den Schatten, wenn es um das Auslösen einer nachgestellten Nostalgie geht. Ironischerweise führte die Nichtexistenz von Revivals und Nostalgie in den 60ern selbst dazu, dass es seitdem zahllose 60er-Revivals gab. Ein Teil der Attraktion dieser Epoche liegt in ihrer völligen Fixiertheit auf die Gegenwart. Schließlich war dies die Epoche, die den Slogan »be here now« geprägt hat.
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Nostalgie immer stärker mit der Popkultur verbunden. Sie drückte sich in der Popkultur aus (Revivals, Radiosendungen mit Oldies, Reissues etc.), aber sie wurde auch von der Popkultur aus der eigenen Jugend ausgelöst: Artefakte der Massenunterhaltung wie etwa längst vergessene Prominente und verstaubte TV-Sendungen, bizarre Werbung und Tanzstile, alte Hits und veralteter Slang. Fred Davis weist in seiner Studie Yearning for Yesterday: A Sociology of Nostalgia von 1979 nach, dass längst vergangene Massenkultur in zunehmendem Maße politische Ereignisse wie Kriege oder Wahlen als die Schlüsselereignisse des Generationengedächtnisses ablöst. Wer in den 30ern aufgewachsen ist, bei dem werden durch Radio-Komödien und Übertragungen von Live-Musik wehmütige Erinnerungen geweckt, während es für die, die in den 60ern und 70ern aufwuchsen, TV-Pop-Sendungen wie American Bandstand und Soultrain, Ready Steady Go und Top of the Pops sind. Und für eine spätere Generation (von der viele noch Musik machen und Wellen schlagen) sind die Auslöser der Nostalgie die zahlreichen Aspekte der grellen 80er-Modernität: Die unbeholfenen Gehversuche von Video als Kunstform, damals auf MTV ausgestrahlt, die damals futuristischen, heute lachhaft primitiven Computer- und Arcade-Spiele dieser Zeit und deren roboterhafte, fröhlichen Melodien und Day-Glo-Synthietöne.
Nostalgie ist durch und durch mit dem Komplex Konsumenten-Unterhaltungsindustrie verbunden: Wir empfinden Schmerzen beim Anblick der Produkte aus der Vergangenheit, den Neuheiten und Ablenkungen, die unsere Jugend bevölkerten. Indem sie individuelle Beschäftigungen (wie Hobbys) oder partizipatorische lokale Aktivitäten (wie Freizeitsport) in den Hintergrund drängen, übernehmen die Massenmedien und die Popkultur einen immer größer werdenden Teil unseres geistigen Lebens. Das ist der Grund, warum Sendungen wie I Love the ’70s/’80s etc. so effektiv sind: der Verlauf unserer Zeit ist ein Index für die schnell alternden Trends, Moden, Promi-Karrieren etc. geworden.
Aus der Schnittmenge von Massenkultur und persönlicher Erinnerung geht Retro hervor. Vielleicht ist es hier an der Zeit für eine provisorische Definition von Retro, um es von anderen Formen, die sich auf die Vergangenheit beziehen, zu unterscheiden:
(1) Bei Retro geht es immer um die relativ unmittelbare Vergangenheit, um Dinge, die noch lebendig in Erinnerung sind.
(2) Retro enthält ein Element der exakten Wiederholung: Archivierte Dokumente (Fotografie, Video, Musikaufnahmen, Internet) sind griffbereit verfügbar und erlauben eine präzise Nachbildung eines alten Stils, egal, ob es sich dabei um vergangene Musikgenres, Bilder oder Mode handelt. Das Ergebnis davon ist, dass das Ausmaß an einfallsreichen Umgestaltungen der Vergangenheit – die Verfälschungen und Veränderungen, die frühere Kulte um zurückliegende Zeiten ausgemacht haben – zurückgeht.
(3) Retro beinhaltet gemeinhin auch die Artefakte der Popkultur. Das unterscheidet Retro von früheren Revivals, die sich, wie der Historiker Raphael Samuel betont, um die Hochkultur gedreht haben und von den höheren Rängen der Gesellschaft ausgingen – aristokratische Ästheten und Antiquare, die über einen ungewöhnlichen Geschmack für ausgefallene Sammlerstücke verfügten. Der Tummelplatz für Retro sind nicht die Auktionshäuser oder die Antiquitätenhandlungen, sondern Flohmärkte, Wohltätigkeitsbasare und Ramschläden.
(4) Ein letztes Charakteristikum des Retro-Bewusstseins ist, dass es die Vergangenheit weder idealisiert noch romantisiert, sondern versucht, von ihr unterhalten und fasziniert zu sein. Im Großen und Ganzen ist die Annäherung nicht wissenschaftlich und puristisch, sondern ironisch und eklektisch. Samuel spricht davon, dass »der Retrochic die Vergangenheit wie ein Spielzeug behandelt.« Diese Verspieltheit hängt damit zusammen, dass es bei Retro tatsächlich mehr um die Gegenwart als um die Vergangenheit geht, die verehrt und wiederbelebt wird. Die Vergangenheit wird als ein Material-Archiv behandelt, aus dem durch Recycling und Neukombination subkulturelles Kapital (Hipness also) gewonnen werden soll: die Bricolage von kulturellem Nippes.
Woher kommt das Wort »Retro«? Laut der Design-Historikerin Elisabeth Guffey wurde der Begriff in den frühen 60ern als linguistisches Spin-Off des Raumfahrtzeitalters in den allgemeinen Sprachgebrauch aufgenommen. Retroraketen sorgten für einen Bremsschub und verlangsamten den Antrieb der Raumkapseln. Die Verbindung von »Retro« mit der Epoche nach Sputnik, dem Wettlauf ins All, führt zu einer reizvollen Analogie: Retro bildet das kulturelle Gegenstück zum »Rückwärtstrieb«, Nostalgie und Revials entstehen in den 70ern als Reaktion auf den mit Volldampf betrieben Ausflug ins All.
So verführerisch diese Vorstellung ist, so ist es doch wahrscheinlicher, dass »Retro« ein Präfix ist, das von »Retrospektive, »retrograd« und ähnlichen Begriffen losgelöst wurde. Begriffe, die mit »Retro« beginnen, haben eine eher negative Bedeutung, wohingegen »Pro«-Wörter eher in Richtung »progressiv« zeigen. Retro selbst ist also eine Art schmutziges Wort und nur wenige Leute wollen damit in Verbindung gebracht werden. Das absurdeste Beispiel dafür ist die tragische Story von Donald Cameron, einem Wirt in Birmingham, der sich 1998 umbrachte, als der Eigentümer des Pubs, eine Brauerei, entschied, seinen Laden in einen Retro-Schuppen namens Flares umzugestalten. Bei der Untersuchung des Todes erzählte Camerons Witwe, dass die erniedrigende Aussicht, »Kleidung aus den 70ern und Perücken zu tragen«, Cameron in die Verzweiflung getrieben habe. »Er dachte, er könne nicht damit umgehen, wenn es im Pub Schwierigkeiten gäbe. Die Leute würden über ihn lachen, weil er lächerlich aussieht.« Ein paar Tage, nachdem er von den Brauerei-Typen dafür gemaßregelt worden war, dass er während seiner Arbeit einen typischen 90er-Jahre Anzug und Krawatte trug, erstickte sich der 39-jährige Vater zweier Kinder mit den Abgasen seines Autos.
Das ist eine extreme Reaktion, doch ich habe beobachtet, dass Leute, mit denen ich Interviews geführt habe, betonten, dass sie rein gar nichts mit Retro zu tun hätten. Das waren häufig Leute, die ihr ganzes Leben einer bestimmten vergangenen musikalischen oder subkulturellen Epoche verschrieben hatten. Aber Retro? Auf keinen Fall … Es geht gar nicht darum, dass den Leuten das Image nicht gefällt, mit СКАЧАТЬ