Название: DIE GRENZE
Автор: Robert Mccammon
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783958353060
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Darauf hatte sie keine Antwort. Sie sah das Büro der Bibliothek und den Check-out-Schalter am anderen Ende des Raumes. Ein Ständer mit Film-DVDs war umgefallen und das Plastik knackte unter ihren Stiefeln, als sie sich dem Schalter näherte. Darauf stand – in all dem Chaos – eine kleine, aufrechte Metallstatue eines Footballspielers, der in einer Faust eine kleine amerikanische Papierfahne und im anderen, gebeugten Arm einen Football hielt wie ein geliebtes Kind.
Bei Olivias nächstem Schritt sackte der Holzfußboden plötzlich unter ihr weg. Es gab ein dumpfes, nasses Geräusch von etwas Verrottetem, das nachgab. Sie schrie auf, als ihr rechtes Bein durch den Boden brach. Sie dachte erst, dass sie ganz hindurch bis in den Keller stürzen würde und ließ beinahe ihr Gewehr los, um nach den Holzdielen um sie herum zu greifen, aber dann blieb sie stecken. Nur das eine Bein baumelte in der Dunkelheit.
Dave war sofort an ihrer Seite und half ihr auf. »Immer schön vorsichtig«, sagte er. »Bist du okay? Ist dein Bein verletzt?«
»Mein Knie hat es ganz schön erwischt. Das ist alles. Pass auf den Boden auf, er beißt.«
»Ja, das sehe ich.« Dave spähte in das Loch, konnte aber nichts sehen als Dunkelheit. Von unten war tropfendes Wasser zu hören und aus dem Keller stieg ein scharfer, muffiger Geruch auf, als käme er geradewegs aus einem Garten voller Giftpilze. »Pass gut auf.«
»Du auch. He«, sagte sie, nachdem ihr etwas aufgefallen war. »Hinter dem Schalter steht ein Aktenschrank. Da könnte sich ein Blick lohnen.«
»Auf jeden Fall. Na los, du bleibst besser bei mir.«
Sie gingen hinter den Schalter und begutachteten den Aktenschrank, der offenbar der einzige unbeschadete Überlebende des Sturms war, der hier gewütet hatte. Dave öffnete die oberste Schublade und fand einen Stapel Schulzeitungen, die Gazette. Die zweite Schublade enthielt Schachteln voller Bleistifte, Kugelschreiber, Gummibänder, Büroklammern und dergleichen mehr. Die dritte Schublade war größtenteils leer, bis auf ein paar Papierblöcke, und die vierte und letzte Schublade enthielt zwei Mausefallen.
»Unter dem Schalter sind noch mehr Schubladen«, bemerkte Olivia, und sie humpelte hin. Offenbar hatte sie einen heftigen Schlag aufs Knie bekommen. Das Ding wird anschwellen, dachte sie. Magnifico! Genau das, was sie jetzt brauchte: ein paar Tage wie eine alte Großmutter umher zu humpeln.
Sie öffnete die oberste Schublade hinter der Theke und fand noch mehr Stifte, Notizblöcke, Büroklammern und jemandes Vorrat an Orbit-Kaugummi in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Die nächste Schublade enthielt ein dickes rot-goldenes Jahrbuch namens The Mountaineer aus dem letzten Jahr, ein paar alte Handys, die an jenem Tag beschlagnahmt worden sein mussten, und …
… fast völlig unter dem Jahrbuch versteckt, lag noch etwas anderes. Sie hob The Mountaineer hoch und sah eine Straße, die sich durch einen Kiefernwald schlängelte. Es war ein Rand-McNally United States Road Atlas, gerade einmal drei Jahre alt. Eine tote Kakerlake war zwischen dem Mountaineer und dem Rand-McNally platt gedrückt worden. »Hier!«, rief Olivia und holte den Straßenatlas heraus. Der strenge Hinweis eines Bibliothekars war mit rotem Permanentmarker auf die Titelseite geschrieben: Verbleibt im Raum.
»Ich habe gefunden, wonach du gesucht hast«, sagte sie zu Dave, und ihre Stimme klang mehr als nur ein kleines bisschen triumphierend.
Dave kam zu ihr, um sich ihren Fund anzusehen. »Jawoll!« Er wurde sich bewusst, dass er seit sehr langer Zeit nicht mehr so aufgeregt geklungen hatte, und dieser Ton in seiner Stimme überraschte ihn. »Alles klar. Gut! Es ist zumindest ein Anfang.« Er rollte den Atlas zusammen und steckte ihn in den Bund seiner Jeans. »Ich weiß zwar nicht, wonach wir genau suchen sollen, aber …«
Der Boden knackte. Es war nur ein leises Geräusch, aber es wirkte bedrohlich.
»Ich denke, wir sollten …«, von hier verschwinden, wollte Olivia sagen, aber sie kam nicht mehr dazu.
Etwas kroch aus dem Loch im Boden der Bibliothek.
Es kam nach oben und schwankte wie eine Kobra hin und her.
Es war dünn, grau, fleischig und musste einmal eine Frau gewesen sein, denn sie sahen schlaff herunterhängende, entblößte Brüste und zottige Strähnen langer, weißer Haare. Die im knochigen Schädel eingesunkenen Augen huschten hin und her und suchten entweder nach dem Ursprung der menschlichen Stimmen oder nach der Quelle des Geruchs nach frischem Fleisch. Die klauenartigen Hände kratzten über den Boden und versuchten, den Körper komplett aus dem Loch zu ziehen, aber irgendetwas schien es zu behindern. Der Mund des Dings verzog sich vor Frustration und ein leises Rasseln kam aus der trockenen Kehle. Olivia fing an zu schreien, bekam sich aber wieder unter Kontrolle. Keine Zeit dafür. Mit grimmiger Miene schwang sie stattdessen ihr Gewehr herum, um das Feuer zu eröffnen.
Der Boden der Bibliothek kräuselte sich und wogte wie eine schmutzige Meereswelle. Die nassen Dielen platzten auf, als sich die krallenbewehrten Hände ihren Weg bahnten. Dave vermutete zuerst, dass er und Olivia über ein schlafendes Nest von Grauen gestolpert waren, und das war zumindest nicht ganz falsch … aber in den nächsten Sekunden, als der Boden sich weiter aufspaltete und das feucht-glänzende graue Fleisch herausrutschte, erkannte er voller Entsetzen, dass der Keller der Ethan-Gaines-Highschool etwas ganz anderes ausgebrütet hatte.
Dave hatte als Jugendlicher bei einem Sommerjob alte Häuser mit abgerissen und Holz und Ziegel nach draußen geschleppt. Hey, hey!, hatte der Vorarbeiter an einem heißen Augustnachmittag ausgerufen. Schaut euch das mal an!
Und so hatte Dave das zweifelhafte Vergnügen gehabt, hinter einer gerade aufgestemmten Mauer ein Dutzend oder mehr Ratten zu sehen, die kreischend und wühlend zu fliehen versuchten. Aber sie waren untereinander an den Schwänzen zu einem Kreis verknotet, und ohne gemeinsames Ziel kamen sie nicht von der Stelle. Eine Ratte waren schon tot und halb verrottet, während sich die Lebenden voller Verzweiflung wild hin und her warfen, mit entblößten Zähnen, funkelnden Augen und rasselndem Atem.
Das ist ein Rattenkönig, hatte der Vorarbeiter gesagt. Habe bislang nur einen von ihnen gesehen, in meinem ganzen Leben. Sie sind auf kleinem Raum stecken geblieben, haben sich gegenseitig angepinkelt und ihre Schwänze sind zusammengewachsen. Ekelhaft!
Der Vorarbeiter hatte dann seine Schaufel erhoben und sich an die Arbeit gemacht, den Rattenkönig kaputt zu schlagen. Die Ratten starben in einem blutigen und quietschenden Durcheinander. Dave hatte die Ehre gehabt, die sterblichen Überreste in eine Mülltonne zu werfen.
Jetzt, viele Jahre später, beobachtete Dave McKane, wie in dieser Albtraumwelt ein Rattenkönig, der aus Grauen bestand, aus dem aufgebrochenen Boden kroch.
Ihre Beine waren zu etwas zusammengewachsen, das langen, dünnen Tentakeln ähnelte, die Rattenschwänzen nicht unähnlich waren. Einige der Leichen waren von anderen Körpern verschlungen oder umwachsen worden, sodass sie beinahe ineinander übergingen. Vielleicht zwanzig oder mehr Graue, ehemals Männer, Frauen und Kinder, waren zu diesem Rattenkönig-Kreis verbunden, und ihre Köpfe und Arme befanden sich nicht immer dort, wo sie sein sollten. Von ihrer Kleidung waren nur noch durchnässte, dunkelfleckige Lumpen übrig. Offenes, graues Fleisch zog sich aus dem Keller nach oben. Die zerstörten Gesichter und missgestalteten Köpfe spannten sich an den Hälsen. In einigen der klaffenden Münder glitzerten Zähne wie kleine Rasierklingen und in anderen zeigten sich Reihen von haiähnlichen Reißzähnen.
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