Название: Lebenssplitter
Автор: Dietmar Wolfgang Pritzlaff
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783961124756
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„Dann also auf,“ lächelte die junge Frau und zog das Rollo aus der Halterung. Es zog sich aber nicht von selbst zurück. „Ich glaube es klemmt.“
„42. Natürlich klemmt es“, wisperte die alte Dame. Man sollte sie doch nicht von draußen sehen. „42, mein Gott, 42... Schlagen Sie das Rollo doch einfach hoch.“ Wie stickig es hier ist. „Öffnen Sie bitte das Fenster, sofort.“
Die junge Frau hielt das alte Rollo in einer Hand, mit der anderen versuchte sie das Fenster zu öffnen.
„Ich schaff es nicht“, klagte die junge Frau und riss an einem der Fenstergriffe.
„Ja, ich weiß, ich weiß. Das schafft niemand. Oh, Gott, 42... kein Ausweg,“ wimmerte die alte Dame.
Der dicke Herr erhob sich und sagte: „Lassen Sie mich mal machen, dann ist bald alles vorbei und wir haben es überstanden.“ Die junge Frau stand noch am Fenster und hielt das Rollo. Der dicke Herr ging auf das Fenster zu.
...alles vorbei? ...überstanden? „Nein“, schrie plötzlich die alte Dame als der wuchtige Körper des dicken Mannes sie fast zu erdrücken drohte. Sie stand auf. Ihre Handtasche, die auf ihrem Schoss gelegen hatte, fiel zu Boden. Die Dame schlug mit all ihrer Kraft gegen den Bauch des dicken Herrn und quetschte sich an ihm vorbei.
„Na, hören sie mal...“, beschwerte sich der dicke Herr, aber das nahm die alte Dame nicht mehr wahr. Sie öffnete die Abteiltür und schleppte sich durch den Gang. Sie hörte Schritte hinter sich. Menschen, viele Menschen traten auf den Gang und gingen ihr nach. Nur fort von hier. Weit weg. Sie öffnete die Verbindungstür zum nächsten Wagon. Aber da standen auch schon eine Menge Leute. Sie drängte durch die Menschenansammlung. Da, endlich eine Tür nach draußen. Sie fasste den Türgriff, drückte ihn nach unten...
Ein Zugbegleiter in Uniform hielt sie an der Schulter fest und fragte: „Wo wollen wir denn hin, Oma? Der Zug fährt doch noch.“
Die alte Dame schrie, riss sich los und stolperte nach vorne. Die Tür schwang auf, die alte Dame konnte sich nicht mehr halten und stürzte aus dem Zug. Sie brach sich das Genick und war auf der Stelle tot.
In der Handtasche der alten Dame fanden Polizisten eine Postkarte: „Liebe Oma, wir freuen uns so sehr, dass Du uns, nach all den Jahren, auch mal in München besuchen kommst. Wir holen Dich vom Bahnhof ab...“
Nach Stunden der polizeilichen Untersuchungen fuhr der Zug weiter. Nächster Halt: Dachau!
Die letzte Umarmung
Ein leises Röcheln nimmt Rainer noch wahr, dann sackt Norberts Körper, der sich mit der wenigen, ihm noch verbliebenen Kraft an Rainer klammerte, in sich zusammen.
Rainer umschlingt den Toten noch fester als vorher. Er weint und bettet sein Gesicht auf den fast kahlen Kopf seines Freundes. Norbert wiegt nur noch fünfundvierzig Kilo, er besteht nur noch aus Haut und Knochen. Dunkle große Flecken verunstalten die sowieso schon runzelige Haut, die aussieht, als sei sie von einem 90-jährigen.
Aber Norbert ist erst 26 Jahre alt, als er in Rainers Armen stirb. Endgültig, für alle Ewigkeit dem genommen, der ihn doch so braucht. Was ist Rainer denn schon ohne Norbert, den großen Lebenskünstler, der sich selbst sein Schwulsein schon mit 14 Jahren zugestanden und dann ein ganz offenes Leben geführt hatte? Seine Eltern hatten ihn akzeptiert, und er seine Eltern. Sie hatten in großer Harmonie gelebt.
Und jetzt ist der Mensch tot, der Rainer zu seinem Coming-out verholfen hatte, der ihn gelehrt hatte neu zu leben, ohne Angst zu leben, sich zu akzeptieren, ohne sich ständig vor anderen zu verstecken, zu lügen, sich selbst zu belügen.
Als Norbert krank geworden war, hatte sich Rainer um Norbert gekümmert, erst die vielen Monate zu Hause, dann im Krankenhaus. Fast täglich war er gekommen und Stunden bei seinem Freund geblieben. Dieses Zimmer war im Laufe der Zeit zu seinem Zuhause geworden, hier war Norbert, hier war Geborgenheit, hier waren tiefe Gefühle und seine große Liebe gewesen.
Behutsam hebt Rainer den Leichnam seines Freundes hoch und drückt ihn dann wieder fest an sich, an seine beharrte muskulöse Brust, die Norbert immer so geliebt und an der er seine Phantasien ausgetobt hatte. Lüstern hatte er Rainers Brustbehaarung gekrault. Wie gerne hatte er an seinen Brustwarzen gespielt, sie gesaugt, geleckt und sogar zärtlich gebissen. Ab und zu hatte Norbert auch mal härter an Rainers Brust gefasst, um sie zu kneten und zu drücken.
Rainer schluchzt und heult. Für ihn ist Norbert alles gewesen. Rainers Eltern hatten erst vor ein paar Jahren von seinem Leben im Dunkeln erfahren, und das auch nur, weil Norbert ihn dazu aufgefordert hatte, endlich ein Gespräch zu suchen. Rainer hatte über Rainer erzählt, das wäre ihm selbst nie in den Sinn gekommen, das hätte er sich niemals getraut. Aber er hatte es schließlich doch geschafft: Er konnte über sich selbst zu anderen, erst zu schwulen Freunden und zu engen Bekannten, dann mit Norberts Familie und schließlich auch mit seiner eigenen Familie reden.
Zuerst hatten Rainers Eltern mit völliger Ablehnung reagiert. Man hatte sich ausgeschwiegen, wo sonst zusammen geplaudert, diskutiert, gelacht und geweint worden war. Unausgesprochenes und Unterdrücktes bildete eine unüberwindbare Mauer. Die Mutter hatte ihre eigenen Fehler in der Erziehung gesucht, und füllte nicht nur ein Taschentuch mit ihren Tränen. Der Vater hatte gemeint, Rainer solle zu einem Arzt gehen und sich mal ganz auf den Kopf stellen lassen. Oder zu einem guten Psychiater, der das verdrehte, nicht normale Denken wieder entwirren und auf die rechte Bahn bringen sollte. Vielleicht kann man es herausprügeln, hatte sein Vater einmal sehr ernst zu Rainer gesagt. Diese verdammte Krankheit, die Krankheit der Verdammten, das Befallensein von Homosexualität müsste man doch heilen können.
Tiefe Wunden der Vorwürfe und Selbstanschuldigungen hatten in dem Familienzusammenleben geklafft. Rainer sollte bloß nicht auf die Idee kommen mal vor Verwandten etwas von seinem unnormalen Umgang zu erzählen, oder gar einen dieser Menschen mit nach Hause zu bringen. Rainer setzt sich über solche Gebote hinweg und dann war seine Mutter diejenige, die die ersten Berührungen mit Bekannten ihres Sohnes machte und überrascht feststellte, dass diese Bekannten auch richtige Menschen waren. Das anerzogene Vorurteil, Andersartiges generell abzulehnen steckte in den Eltern zu tief fest. Erst nach einigen Monaten hatten sich allmählich die Spannungen und Zerwürfnisse mit seinen Eltern gelockert.
Rainers Schwestern hingegen hatten ihm von Anfang an volle Rückendeckung gegeben, hatten es hochinteressant gefunden und alles wissen wollen, was bis dahin verschwiegen worden war: Auf welchen Typ Mann Rainer so steht, mit wem er denn schon alles ... und wann ... wie ..., wo ...und was ...
Was? Ja, was machen denn Männer so miteinander? Sie küssen sich, streicheln sich, spielen aneinander herum, reiben sich, umschlingen sich, wälzen und ringen miteinander, lecken sich ihre lustvollen Körper die sich wie im Kampf winden und drehen. Sie wichsen ihre Lustzepter und blasen was das Zeug hält und ficken und rammeln und bumsen einfach so drauf los, bis die Schwarte kracht, bis das Gummi platzt, ach welches Gummi, es geht auch ohne, denn man selbst ist doch nicht von AIDS betroffen, es sind immer die anderen, die anderen...
Tatsächlich hatte es andere gegeben, auch im Liebesleben von Rainer und Norbert. Und irgendwann war Norbert mal wieder erst spät in der Nacht nach Hause gekommen und hatte Rainer sein geiles, unsafes Erlebnis mit einem ihm völlig Unbekannten gebeichtet.
Norbert hatte schon mehrere schnelle, anonyme Sexabenteuer dieser Art in Bars oder Saunen erlebt und auch für Rainer hatten diese Orte große Reize ausgestrahlt. Wie hätte er Norbert deshalb Vorwürfe machen können? Öfter СКАЧАТЬ