Название: Lebenssplitter
Автор: Dietmar Wolfgang Pritzlaff
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783961124756
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Ahnte Herr Schulte schon einen Streich, als er die Klasse betrat, die viel ruhiger als sonst war?
Er ließ sich nichts anmerken und ging eiligen Schrittes auf das Lehrerpult zu. Er blieb an der Seite des Pultes stehen und packte seine Tasche aus. Das Erdkundebuch und die von uns so verhassten Arbeitsblätter legte er fein säuberlich auf den Tisch. Dabei begrüßte er uns: „Guten Morgen, Kinder“, und stieg sofort in den Unterricht ein. „In der letzten Stunde sprachen wir über die Erdölvorkommen auf unserer Erde...“ Sein Redeschwall, die Zusammenfassung der letzten Stunde, prasselte über uns hernieder und er sortierte und ordnete noch im Stehen die Arbeitsblätter, ohne uns anzusehen.
Die vielen Worte zischten durch den Raum und drängten an mein Ohr, aber meine Anspannung, meine Aufregung, um das gleich Folgende, ließen die Worte nicht in meinen Kopf eindringen, prallten unverarbeitet an mir ab und zerplatzten wie Seifenblasen im Raum.
„So, dann schlagt mal eure Bücher auf, die Seite 137.“ Mit diesen Worten rückte Herr Schulte den Stuhl nach hinten und kam zwischen Tisch und Stuhl zu stehen. Wir kramten nach dem Buch in unseren Taschen, ohne den Lehrer aus den Augen zu lassen. Zu groß war unsere Vorfreude.
Endlich, er setzte sich. „Heute beschäftigen wir uns mit den Edelmetallen...“
Jemand musste die Zeit angehalten haben. Das gab es doch gar nicht. Mir kam es vor, als ob sich Lehrer Schulte wie in Zeitlupe bewegte. Ganz langsam beugte er sich nach vorne, zog den Stuhl unter seinen Hintern und nur Stück für Stück bewegte sich sein Körper abwärts. Spürte sein Hintern was auf ihn zu kam?
Jetzt, der Stich. Herr Schulte saß. Die Augen der ganzen Klasse stierten in sein Gesicht. Keine Regung. Er saß gemütlich auf dem Stuhl, die dicke Polsterung wurde unter seinem Gewicht fast ganz zusammengepresst, die Nadel musste tief im Hintern stecken und immer noch keine Regung.
Alle Schüler erstarrten. Verstohlen sahen wir uns gegenseitig an. Jetzt bloß nicht auffallen, dachte ich. Herr Schulte fuhr unermüdlich mit seinem Unterricht fort.
„Martin?“ Ich hörte meinen Namen. Herr Schulte sah mich an. „Was, wie?“, fragte ich zurück.
„Ich hatte dir eine Frage gestellt.“ Herr Schulte blieb wie immer ganz ruhig. „Weiß ich nicht“, antwortete ich mit gebrochener Stimme.
Herr Schulte notierte sich etwas und fragte dann Angelika, aber auch sie wusste nicht zu antworten. Stefan, der neben mir saß, musste für Herrn Schulte die Arbeitsblätter verteilen. Hausaufgaben. Herr Schulte redete weiter und weiter und weiter. Die Stunde schien kein Ende zu nehmen.
Endlich, die Pausenglocke. Herr Schulte stand auf, packte das Erdkundebuch wieder in seine Tasche und ging.
Alle Schüler starrten ihm nach. Unsere Blicke suchten seinen ganzen Hintern ab. Nichts zu sehen. Keine Nadel, kein Blutfleck, nichts.
Stefan und ich untersuchten den Stuhl. Die Nadel war weg. Verwundert gingen wir in die Pause. Auf dem Pausenhof begannen die Fragen. Konnte die Nadel verrutscht sein? Abgebrochen vielleicht? Hatte ein Schüler aus unserer Klasse die Nadel zuvor entfernt?
Lea überlegte: „Sie steckt bestimmt noch in seinem großen Hintern. Der ist so dick, da merkt er eine Nadel vielleicht nicht mehr.“
„Ich glaube, sie steckt nur im Stoff seiner Hose und hat ihn gar nicht getroffen“, gab Werner zu bedenken.
Wir suchten nach Möglichkeiten, kamen aber immer wieder auf einen Gedanken zurück: Hatte Herr Schulte den Stich ausgehalten? Ohne mit der Wimper zu zucken ausgehalten? Die ganze Schulstunde über?
Der Gedanke machte uns Angst. Das war nicht menschlich. Herr Schulte wurde für uns unangreifbar. In unseren Köpfen wurde er zu einem übernatürlichen Wesen.
Seit dem passten wir in Herrn Schultes Schulstunden mächtig auf. Keiner hatte noch Lust zu Späßen, Schabernack und Streichen. Das wirkte sich auch auf die Stunden anderer Lehrer aus. Unsere gesamte Klasse war wie verwandelt.
Und noch heute verfolgt mich dieses Bild: Herr Schulte setzt sich... langsam... wie in Zeitlupe... Die Nadelspitze wartet unter ihm... Herr Schulte sitzt... Keine Regung... Keine... Nichts...
Die ewig Reisende
Vor Erschöpfung war das Mädchen eingeschlafen. Sie lag in den Armen einer fremden Frau. Die Fremde saß auf den schmutzigen Bohlen des Wagons. Jetzt erwachte die Kleine. Sie erschrak. Die Fremde streichelte den Kopf des Mädchens. Fragend sah das Mädchen die Fremde an. „Ruhig, ganz ruhig, meine Kleine,“ sagte die Frau ganz sanft und hielt das Mädchen noch fester in ihren Armen. „Bald ist alles vorbei.“
Das Mädchen wollte etwas erwidern, bekam jedoch keinen Laut aus ihrer Kehle. Ihr Mund war ausgetrocknet vom Schreien und Weinen nach ihrer Mutter, vom Betteln nach Wasser und Brot. Sie rang nach Atem, aber es gab kaum Luft. Zu viele Menschen drängten sich aneinander. Der Gestank von Schweiß, Kot und Urin biss sich durch Nase und Mund in die Lunge.
Das Mädchen lauschte. Sie hörte keine Fahrgeräusche mehr, nur noch die Angstschreie der Anderen. Das Flehen und Betteln nach Wasser. Sie schaute nach oben. Über ihr versuchten verzweifelt knochige Hände Löcher in die Bretter der Außenwände zu kratzen.
Sie drehte ihren Kopf zur Außenwand und erspähte einen kleinen Spalt zwischen den Brettern, genau in Augenhöhe vor ihr. Die fremde Frau entließ sie aus ihren Armen und das Mädchen schob ihren Kopf vor die Bretterwand. Sie sah durch den schmalen Schlitz nach draußen. Der Zug stand still. Der Himmel blau, ohne Wolken. Die Sonne brannte unablässig herab auf goldgelbe Felder und grüne Wiesen. Neben den Gleisen ein Stein mit eingemeißelten Zahlen: 4 2 .
Plötzlich ein harter Schlag von außen gegen die Bretterwand. Ihr Kopf zuckte ruckartig von dem Schlitz in der Wand zurück. Im letzten Moment sah sie noch den Mann in Uniform vorbeigehen. Sie lehnte sich wieder zurück, in die offenen Arme der fremden Frau. Der Zug rollte an. Die Fremde hielt das kleine Mädchen wieder ganz fest. „Bald haben wir es überstanden“, hörte das Mädchen die Frau noch sagen, dann schlief sie vor Schwäche ein.
Die alte Dame erwachte aus ihrem kurzen, aber tiefen Schlaf. Ihr Kopf war schwer geworden und lehnte an der Kopfstütze. Die Dame hatte sich extra einen Fensterplatz reservieren lassen, um die Landschaft betrachten zu können. Jetzt schlug sie die Augen auf. Sie sah keine Landschaft mehr, dafür fiel ihr Blick auf ein schmutzig, beige-graues Rollo. Ihre Hand ergriff die Außenkante des Rollos und zog es ein wenig zu sich. Durch den Spalt sah die Frau hinaus. Der Zug rollte ganz langsam, fast geräuschlos. Die Sonne schien über das Land. Über die goldgelben Felder und saftig grünen Wiesen. Ein Stein. Eine Zahl. 42. Die alte Dame erstarrte, fasste sich an die Brust und rang nach Atem. Der Zug fuhr langsam an dem Kilometerstein vorbei.
Die junge Frau ihr gegenüber sprach: „Ich habe das Rollo heruntergezogen. Die Sonne fiel durch das Fenster direkt auf ihr Gesicht.“
Die alte Dame wendete sich abrupt der jungen Frau zu und atmete schwer. „Sehr aufmerksam von ihnen, vielen Dank. Können sie es bitte wieder aufmachen? Bitte! Schnell!“
„Natürlich, sofort, ja. Geht es Ihnen gut?“ Die junge Frau ergriff das Ende des Rollos, wendete sich dann aber dem dritten Fahrgast zu. Ein dicker СКАЧАТЬ