Название: Die Freimaurer
Автор: Dieter A. Binder
Издательство: Bookwire
Жанр: Общая психология
Серия: marixwissen
isbn: 9783843800228
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Freimaurer und Gentleman
Ein weiterer Ansatz
Die traditionelle Interpretation des Aufschwungs zünftisch geprägter Zusammenschlüsse zu gesellschaftlich akzeptierten und begehrten Logen argumentiert mit Hinweisen auf die Aufnahme von Nichtwerkleuten von hohem gesellschaftlichen Rang, die zum einen dem handwerklichen Bund gesellschaftliche Reputation, zum anderen aber auch Mittel zur Hand gab, um seinen sozialen Verpflichtungen nachzukommen. Dieses Modell kann aber nicht den raschen gesellschaftlichen Aufschwung der englischen Logen ab 1720 erklären, da diese Praktik der Aufnahme von Nichtwerkleuten, von Spekulativen also, wesentlich älter sein dürfte. Die spezifische englische Sozialstruktur mit ihren fließenden Übergängen zwischen Aristokratie und alten Familien bzw. dem sich festigenden Bürgertum und die starke politisch bedingte Umwälzung der vorangegangenen Jahrzehnte bildeten den Rahmen für die Akzeptanz dieser neuartigen Zusammenschlüsse. Am Beginn des 18. Jahrhunderts kreuzten sich das öffentliche und das private Leben, ihre „Funktionen überschnitten sich und eröffneten so freie Zeiten und Räume“.117 Dadurch, dass Streitgespräche über Politik und Religion untersagt waren, hielt man den wirksamsten Sprengstoff der jüngeren Vergangenheit fern. In diesem Umfeld erfolgte der Aufbruch des Bürgertums „aus dem privaten Innenraum, auf den der Staat seine Untertanen beschränkt hatte“.118 Indem sie sich in der Freimaurerei ein Instrumentarium schuf, das das Private mit dem Arkanum umgab, entstand ein soziales Modell, das innerhalb der jeweiligen Formen der Herrschaftsausübung in Europa als Freiraum bestehen konnte. „Die komplexe sozialintegrative Aufgabe der Logen bestand also darin, zum einen den Funktionsverlust der aristokratischen Eliten zu kompensieren und soziokulturell zu verarbeiten und zum anderen dem Prestige- und Anerkennungsbedürfnis der aufsteigenden bürgerlichen Schichten entgegenzukommen.“119
Nach dieser politischen und soziokulturellen Wertung des Arkanums gilt es nach der erzieherischen Funktion zu fragen. Die zunehmende Ritualisierung des Logenlebens bewahrte „vor den Peinlichkeiten allzu naher Kontaktaufnahme“ sozial unterschiedlich definierter Freimaurer, das Ritual trat an die Stelle des höfischen Protokolls und bildete gleichzeitig den Rahmen für die Einübung in den Umgang des aufstrebenden selbstbewussten Bürgertums mit den Repräsentanten der alten Oberschicht. Die individuelle Erziehung kommt innerhalb der „Alten Pflichten“ im Abschnitt über den Umgang „mit einem unbekannten Bruder“ zum Ausdruck: „Ihr sollt ihn zurückhaltend in einer Weise prüfen, wie eure Vorsicht es angebracht erscheinen läßt, damit ihr nicht von einem unwissenden Betrüger zum Narren gehalten werdet.“120 Als Kardinaltugend erscheint hier die Zurückhaltung, die aber nicht nur als Schutz vor Betrügern verstanden wird, da es im selben Abschnitt weiter heißt, dass von niemandem verlangt wird, mehr zu tun, als er kann.121 Diese Ausgeglichenheit im Benehmen wird auch im Umgang zwischen den Brüdern außerhalb der Loge eingefordert,122 was gleichzeitig nicht nur Ausdruck eines guten Benehmens, sondern auch eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall ist, dass sich ein Profaner dazu gesellt.123 Die würdige Handhabung des Arkanums hängt also eng mit dem entsprechenden Anstand zusammen, der ja den Gentleman auszeichnet. Zweifellos entspricht das Arkanum auch dem Schutzbedürfnis des Einzelnen, der es seiner individuellen Entscheidung überlassen sehen will, ob er sich zu seiner Zugehörigkeit außerhalb des Privaten bekennt oder nicht. Einen anderen Aspekt bringt KNIGGE in seinem Anstandsbuch ein, in dem er das Arkanum aus der Sicht des Außenstehenden spiegelt:„Gleichsam wie verrathen und verkauft scheint ein sogenannter Profaner, wenn er sich unter einem Haufen Mitglieder einer geheimen Verbindung befindet. Freylich ist nichts ungesitteter, den wahren Begriffen einer feinen Lebensart mehr entgegen zu seyn, als wenn eine Anzahl Menschen, die sich auf diese Art untereinander verstehen, einen Fremden, der gutmüthig unter sie tritt, um an den Freuden der Geselligkeit Theil zu nehmen, durch ununterbrochene Lenkung des Gespräches auf Gegenstände, wovon Dieser gar nichts versteht, jeden Genuß der Unterredung raubt.“124 KNIGGE zeigt überdies, wie sehr die Verpflichtung zum Arkanum auch Bestandteil einer allgemeinen, guten Erziehung eines Herrn ist. Ausgehend von der Notwendigkeit, im Umgang mit Anderen Zurückhaltung zu bewahren,125 betont es den grundsätzlichen Charakter der Verschwiegenheitspflicht: „Hüte Dich, aus einem Hause in das andere Nachrichten zu tragen, vertrauliche Tischreden, Familien-Gespräche, Bemerkungen, die Du über das häusliche Leben von Leuten, mit denen Du viel umgehst, gemacht hast und dergleichen, auszuplaudern!“126
Ins Allgemeine erhoben, ist für KNIGGE eine „der wichtigsten Tugenden im gesellschaftlichen Leben […] die Verschwiegenheit.“127 Das Ausarten der Geselligkeit seiner Zeit kritisierend, kommt er in seinem „Lob“ auf die Verschwiegenheit zu einer markanten Zusammenfassung: „Welchen Nachtheil überhaupt solche unvorsichtige Bewahrung fremder und eigner Geheimnisse gewährt, das bedarf wohl keiner weitläufigen Auseinandersetzung. Es gibt aber eine Menge andrer Dinge, die zwar nicht eigentlich Geheimnisse sind, wovon uns aber die Vernunft lehrt, dass es besser sey, sie zu verschweigen, und andre Dinge, deren Ausbreitung wenigstens für niemand lehrreich und unterhaltend seyn kann und wovon es doch womöglich wäre, dass ihre Verplaudrung irgend jemand nachtheilig seyn möchte.– Ich empfehle also eine kluge Verschwiegenheit, die jedoch nicht in lächerliche Mysteriosität ausarten muß, wie eine sehr wichtige Tugend im Umgange. Übrigens wird man die Bemerkung wahr finden, dass in despotischen Staaten die Menschen, im Ganzen genommen, verschwiegner sind als da, wo mehr Freyheit herrscht.“128
So rasch, wie sich diese neue Gesellschaftsform mit der georgianischen Öffentlichkeit Englands arrangierte, so rasch gelang ihr auch der Sprung auf den Kontinent. Während in England die Freimaurerei aus einem bereits etablierten Bürgertum hervorging und sich in Frankreich „die Standesgegensätze […] in das Logenwesen hinein“ verlängerten, wurde im deutschen Sprachraum die Freimaurerei zu einem „Schmelztiegel von Adel und aufsteigendem Bürgertum“.129 In allen drei Regionen war das Ritual die spielerische Voraussetzung für die sozialintegrative Aufgabe der Logen, innerhalb deren in spielerischer Form eine neue Gesellschaft erprobt werden konnte.
So generell der Anspruch auf einen weltumfassenden Bruderbund von Beginn an gestellt wurde, so rasch differenzierte sich das System. Die Logen waren und sind zunächst ein Spiegel der Gesellschaft innerhalb der sie existier(t)en. In Frankreich trat an die Stelle der englischen Toleranz die enge Verknüpfung mit der Aufklärung und einer spezifischen Religionskritik. Beide Traditionen fanden sich im deutschsprachigen Raum und in Nordamerika, während die französische Frontstellung insgesamt für das romanische Europa Vorbildwirkung besaß und die englische Entwicklung den skandinavischen Raum prägte. Nicht ein einheitliches System verbreitete sich in Europa und in den europäischen Kolonien, sondern eine bunte Vielfalt. Grundsätzlich auf dem Boden der Brüderlichkeit stehend, bekannte man sich zum Arkanum und zur stufenweisen Initiation. Doch die Formenwelt und die Interpretation des Zieles blieben den einzelnen Zusammenschlüssen offen, denn „Aufklärung und geheime Gesellschaften sind die beiden merkwürdigen Steckenpferde“ des 18. Jahrhunderts, „ auf welchen sich Thorheit und Weisheit“ der „Zeitgenossen tummeln“.130 СКАЧАТЬ